ERINNERUNGEN AN DEN KAMPF GEGEN DIE ZWANGSREPATRIIERUNG IN HAMBURG 1945

ERINNERUNGEN AN DEN KAMPF GEGEN DIE ZWANGSREPATRIIERUNG IN HAMBURG 1945

von Archimandrit Nafanail

Anfang Mai 1945, einige Tage vor der Ergebung Hamburgs an die Engländer, reisten wir, d.h. ich Archimandrit Nafanail und Mönchspriester Vitalij, von Berlin nach Hamburg, teils zu Fuß, teils per Anhalter. Zu den Gottesdiensten, die wir in der uns von den Engländern zur Verfügung gestellten deutschen Johannes-Kirche organisierten, strömte eine Mange Volks, hauptsächlich Russen und Serben aus den vielzähligen Ostarbeiterlagern. Bald überließen uns die Engländer für die Gottesdienste und als Unterkunft das frühere Oberkommando der SA.
Nach Ostern begannen die Engländer mit dem Transport der Russen in die sowjetische Zone. Das war nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Zwangsrepatriierung. Diese Leute wurden nicht gefesselt, nicht als Gefangene abgeführt. Sie fuhren einfach ab, zuweilen sangen sie sogar schneidige Lieder dabei. Aber die überwiegende Mehrheit fuhr unwillig, einfach deshalb, weil es keinen anderen Ausweg gab. Die Engländer bestanden hartnäckig darauf: “Alle Russen müssen nach Hause zurück”. Aus dem größten der Lager Hamburgs, dem Lager Fischbek, wo etwa 20.000 Ostarbeiter, hauptsächlich Russen, zusammengepfercht waren, wurden in dieser ersten Etappe der Repatriierung alle bis auf den letzten Bewohner abgeführt. Unter den Abtransportierten gab es auch einige Geistliche. Bei der Abfahrt strömten den Leuten bittere Tränen herab, und viele liefen zu uns und flehten uns an, wir mögen “Fürsprache einlegen, damit sie bleiben können”. Ich und Vater Vitalij waren zu jener Zeit gerade dabei, uns mit Mühe Zugang zu den englischen Offizieren zu verschaffen, von denen die Durchführung der Repatriierung abhing. Die Gespäche mit ihnen verliefen fast immer etwa so:
– Werden Sie etwa eine zwangsweise Repatriierung durchführen?
– Eine zwangsweise? Natürlich nicht.
– Das heißt, jene, die nicht nach Hause zurückkehren möchten, können bleiben?
– Nein, bleiben können sie nicht, alle Russen müssen nach Hause fahren.
– Und wenn sie nicht fahren?
– Nun, warum wollen sie nicht fahren? Wirken Sie auf sie ein. In Rußland ist doch alles so prima. Dort wird es ihnen gut gehen.
– Ach, wie soll ich ihnen denn davon erzählen, was in Rußland vor sich geht, wenn sie das alles viel besser als ich wissen?
Solche Gespräche führten zu nichts. In Tränen und Verzweiflung setzten sich nun die Leute täglich gen Osten in Bewegung. Von dort gelangten immer traurigere Nachrichten zu uns. Einigen der so Abtransportierten gelang die Flucht und Rückkehr. Sie berichteten von den schrecklichsten Dingen. Manche der Abtransportierten begingen Selbstmord. Es drangen Gerüchte zu uns, daß in der amerikanischen Zone die Selbstmorde Massencharakter annehmen. Schließlich hißte Ende Mai ein Lager mit 600 russischen Insassen in Hamburg,  Querkampf oder Funkturm, das vor dem Abransport stand, eine schwarze Flagge und verfaßte eine Bittschrift auf Russisch und Englisch (den englischen Text schrieb B. Kecker), in dem die englischen Behörden inständig ersucht wurden, sie an Ort urnd Stelle zu erschießen, aber nicht in die Heimat zurückzusenden. Unter diesem Gesuch standen 268 Unterschriften, da sich nicht alle 600 Insassen dieses Lagers entschließen konnten, solch eine kategorische Erklärung zu unterschreiben.
Mit dieser Bittschrift begab ich mich zu dem Chef der Repatriierungsbehörde, Oberst James. Er nahm das Gesuch von mir entgegen und versprach, sich in dieser Sache mit dem Oberkommando in Verbindung zu setzen und nach einigen Tagen eine Antwort zu geben. Die Antwort traf Anfang Juni ein. Ich habe den Wortlaut noch genau im Kopf: “Keiner, der nicht Kriegsverbrecher ist oder zum 1. September 1939 sowjetischer Bürger war, darf gegen seinen Willen repatriiert werden”. Das bedeutete, daß diejenigen, die zum 1. September 1939 sowjetische Bürger waren, auch gegen ihren Willen repatriiert werden sollten. Ich erinnere mich, in welchen Unwillen der junge anglikanische Pfarrer aus dem Kreis der Cawly Fathers geriet, der damals auf kurze Zeit nach Deutschland kam, um mit den D.P. (displaced person) , wie die Ostarbeiter genannt wurden, zu arbeiten. Als er sich überzeugt hatte, daß er einfach nicht helfen konnte, fuhr er bald wieder ab. Leider habe ich seinen Namen vergessen.
Aber bald zeichneten sich mir und Vater Vitalji Möglichkeiten ab, wie wir diese unmenschlichen Bedingungen umgehen und die Rettung unserer Leute vor der Zwangsdeportation erreichen konnten.
Am nächsten Tag nach dem Erhalt der offiziellen Antwort aus dem Oberkommando wurden wir wieder bei Oberst James vorstellig.
– Und was ist mit polnischen Bürgern, können die in Deutschland bleiben, wenn sie wollen?
– Sie haben das Recht zu wählen, ob sie abfahren wollen oder nicht –, antwortete der Oberst nicht ohne finstere Ironie, und noch heute kann ich mich ganz genau an diese seine Worte erinnern.
– Alle Bewohner des Lagers Querkampf, welche das Gesuch über die Erschießung unterschrieben haben, und alle anderen, die mit ihnen dort wohnen, sind ohne Ausnahme polnische Bürger. Wie jeder weiß, gab es in Polen bis zum Krieg um die 8 Millionen Russen, Ukrainer und Weirussen. Ihre polnische Staatsbürgerschaft können wir leider nicht mit Dokumenten nachweisen, da die Deutschen allen Ostarbeitern, ob sie nun Russen oder Polen waren, die Dokumente abgenommen haben. Folglich müssen wir uns auf die Angaben der Leute selbst stützen. Was sagen Sie dazu?
– Wunderbar! Stellen Sie eine Liste der Bewohner von Querkampf auf, die nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen, bringen Sie diese zu dem polnischen Verbindungsoffizier, der bei unserer Heeresleitung ist, und wenn er diese Liste akzeptiert, dann habe ich nichts dagegen, daß diese Leute in das polnische Lager überführt werden und in Deutschland bleiben.
Wir stellten diese Liste auf. Diesmal unterschrieben 618 Personen, insgesamt alle Insassen von Querkampf. Diese Liste brachten wir dem polnischen Verbindungsoffizier, einem Major aus der Armee Anders und einem überzeugten Antikommunisten. Er unterschrieb die Liste sofort als den Tatsachen entsprechend, setzte sein Siegel darunter, und zusammen mit mir und Vater Vitalij brachte er sie zu Oberst James, der sie annahm und sagte, daß am Dienstag, dem 5. Juni, die Bewohner des Lagers Querkampf in das polnische Lager überführt würden. Das war am Samstag, den 2. Juni (20. Mai nach dem Kirchenkalender).
Wir machten uns sogleich freudig zum Lager Querkampf auf den Weg. Dort wurde unsere Nachricht jubelnd aufgenommen. Die Frauen nähten aus zwei Stücken weißen und roten Stoffes eine polnische Flagge, die über dem Lager aufgezogen wurde, die Männer lernten schnell einige wichtige polnische Sätze, die sie jedoch auf russische Art entstellten.
In einer leerstehenden Baracke befestigten wir mit Reißzwecken an leeren Schränken die von uns mitgeführten Ikonen, was eine Art von Ikonostase wurde. Wir begannen die Vigil zu zelebrieren, und nach der Vigil nahmen wir allen, die  am folgenden Tag die heilige Kommunion empfangen wollten, die Beichte ab. Etwa 400 Personen, über die Hälfte der Lagerbewohner, empfingen am folgenden Tag die Heiligen Gaben. Unter den Kindern im Lager waren viele ungetauft. Am frühen Morgen des folgenden Tag, noch vor der Liturgie, tauften wir über 30 Kinder. Nach der Liturgie mit der Kommunion so vieler Menschen vollzogen wir einige Eheschließungen von Paaren, die bis dahin wegen der Gefahr der kirchlichen Heirat unter der Sowjetmacht und den Schwierigkeiten bei den Deutschen, die keine Geistlichen zu den Osterarnbeitern zuließen, in bürgerlicher Ehe gelebt hatten. Nach der Liturgie und der Hochzeit von gleich 12 Paaren fand ein feierliches Mahl statt. Alle waren in freudiger und festlicher Stimmung.
Erschöpft von den Ereignissen des Tages kehrten wir erst gegen fünf Uhr abends zurück und legten uns sogleich hin. Aber um 7 Uhr stürmten zwei Abgesandte aus dem Lager zu uns herein. Sie kamen auf dem Fahrrad angerast und teilten erregt mit, daß 30 englische Lastwagen in das Lager gekommen seien, um die Leute irgendwohin abzuführen. Ich versuchte sie zu beruhigen, daß man sie wahrscheinlich ins polnische Lager bringen würde, wie Oberst James das versprochen hatte.
– Aber er sagte doch, das solle am Dienstag geschehen, und heute ist erst Sonntag, und die Fahrer sagen uns nicht, wohin sie uns bringen. Wir haben schreckliche Angst. Bitte kommen Sie mit uns, reden sie mit den Engländern, wohin sie uns verfrachten wollen?
Wir hatten nicht die geringste Lust zu fahren, denn wir waren entsetzlich müde. Noch hatten wir keine Ahnung davon, daß es ganz unerläßlich war, mit ihnen zu kommen. Schließlich gaben wir den inständigen Bitten nach, setzten uns in die Straßenbahn und fuhren los.
Dort trafen wir bis zu hundert englische Polizisten an, die das Lager abriegelten und keinen hinausließen. Im Hof standen 30 Lastwagen, auf welche die englischen Polizisten die Habseligkeiten der Bewohner von Querkampf verluden, und sie sebst zwangen, sich irgendwo hinzusetzen. Einige der Insassen verzichteten auf ihre Habseligkeiten und flohen aus dem Lager.
Wir gingen zu den Lastwagenfahrern und fragten sie, wohin sie unsere Leute bringen würden? “Wir wissen es nicht”, antworteten sie trocken. Dies gefiel uns gar nicht. Nach Absprache mit Vater Vitalij beschlossen wir, daß er in dem Lagerbüro beim Telefon bleiben würde und ich mit den Leuten fahren solle, und wenn alles in Ordnung ist, ich ihn in einer Stunde anrufen würde. Und wenn ich keinen Erfolg hätte, dann würde Vater Vitalij zu den Engländern eilen und versuchen uns zu retten.
– Kann ich mit unseren Leuten fahren? –, fragte ich den Chauffeur.
– Natürlich.
Wir stiegen auf die Lastwagen. Ich setzte mich in die Kabine zu dem Fahrer. Alle 30 Maschinen brausten los und legten sofort einen schnellen Gang ein. Wir sausten durch Hamburg, kamen zum Stadtrand und dann zu dem Lager, das mit drei Reihen Stacheldrahl abgeriegelt war. Die Lagertore öffneten sich weit, und unsere Lastwagen rasten in voller Fahrt durch das Tor hinein, einer nach dem anderen.
Die Tore wurden zugeschlagen. Über dem Hauptbüro des Lagers sah man die große rote Flagge mit Hammer und Sichel wehen. Von der Treppe des Büros kam ein sowjetischer Offizier mit enormen Schulterstücken und einer roten Schleife auf der Brust herunter. Er kam zu uns und sprach mit gezierter Stimme:
– Ach, Väterchen, es freut mich sehr, wir werden gut zusammenarbeiten.
Ich kletterte aus der Chauffeurkabine heraus.
– Sagen Sie, gibt es hier einen englischen Offizier?, – fragte ich, meine Erregung unterdrückend den sowjetischen Offizier.
– Hier gibt hier es keinen englischen Offizier, – antwortete dieser mit demselben künstlich affektierten Ton.
– Dies hier ist das sowjetische Transitlager mit sowjetischen Bürger. Hier sind wir, sowjetische Offiziere, und uns zu Diensten steht die deutsche Polizei.
– Sagen Sie, wie kann man von hier wieder wegkommen?, – fragte ich und versuchte einen englischen Offizier zu finden, um mit seiner Hilfe die Leute der Falle zu entreißen.
– Kommen Sie zu mir ins Büro. Ich werde Ihnen einen Passierschein ausstellen, mit dessen Hilfe man Sie hinausläßt. Aber morgen früh müssen alle zur Stelle sein, da um 9 Uhr der Transport in die sowjetische Zone geht, und alle in diesem Lager Befindlichen werden mit dem morgigen Transport weggeschafft.
Mit diesen Worten entfernte sich der sowjetische Offizier. Von den Lastwagen stiegen die Leute, die unser Gespräch gehört hatten, herunter. Sie hatten schreckliche, vergraute, von unmenschlichem Schrecken starr gewordene Gesichter.
– Vater, wohin sind wir nur geraten?
Ich war selbst außer Sprache vor Schrecken und Aufregung und konnte ihnen nichts entgegnen.
– Wartet, ich werde es gleich herausfinden –, sagte ich schließlich und schaute mich um, von wem ich Genaueres erfahren könnte.
Zwei Mädchen gingen an uns vorbei.
– Marusja, schau nur: ein Pope. So einen habe ich noch nie gesehen.
Ich ging zu ihnen hin.
– Ihr Fräulein, wißt Ihr hier in der Nähe nicht einen englischen Offizier?
– Es ist einer dort hinter dem Lager. Nur, um zu ihm zu gelangen, braucht man einen Passierschein. Bei ihm steht ein Wachposten.
Ich eilte dorthin. Da ich Englisch spreche und im Priesterrock mit Brustkreuz ging, ließen mich die Posten leicht zu dem Offizier, Major Anderson, durch.
– Das ist ein Mißverständnis, – schrie ich, als ich in sein Büro eintrat.
– Meine Leute sind polnische Bürger, und Sie haben sie ins sowjetische Transit-Lager gebracht.
– Ach, diese ewige Verwirrung. Russen und Polen sind so schwer voneinander zu unterscheiden. Sammeln Sie die Dokumente von Ihren Leuten ein, bringen Sie sie mir, und ich treffe sofort Anordnung, sie ins polnische Lager bringen zu lassen.
– Sie haben keine Dokumente, wie Sie wissen, nahmen die Deutschen allen Arbeitern aus dem Osten, Russen wie Polen, ihre Dokumente ab (dafür sei ihnen herzlich gedankt, dachte ich dabei).
– So warten Sie ein bißchen, setzen Sie sich, ich rufe sogleich den polnischen Offizier. Er telefonierte und innerhalb von 15 Minuten kam auf dem Motorrad ein polnischer, aber englisch-sprechender Offizier zum Büro.
– Da haben sie euch polnische Bürger gebracht, – sprach der Engländer zu dem Polen, – kontrolliert sie und überführt sie in euer Lager.
Der Pole ging hinaus. Nach einigen Minuten kam er zurück und erklärte:
– Kein einziger von ihnen ist polnischer Bürger, kein einziger von ihnen spricht Polnisch. Das sind ja alles sowjetische Staatsangehörige.
Da bemerkte ich mit Schrecken über seiner linken Brusttasche ein kleines rotes Sternchen. Das war also ein roter Pole, ein Abgesandter der Ljubliner Regierung, oder einer der hier zu den Kommunisten übergegangen ist. Die Engländer verstanden diesen Unterschied fast gar nicht, während es für uns eine Frage von Leben und Tod war.
Major Anderson schaute mit kaltem feindlichen Blick auf mich.
– Was bedeutet dies? –, fragte er.
– Ich weiß, was ich sage, – beharrte ich –, sie sind polnische Staatsbürger. Oberst James weiß Bescheid über diese Sache.
– Ich werde der Sache nachgehen, – sagte Anderson und schwieg.
In der schwarzen Finsternis der Verzweiflung kam ich aus einem Büro heraus. Einige meiner Leute kamen auf mich zu.
– Vater, sie anerkennen uns hier nicht als Polen und registrieren uns als Sowjets. Was sollen wir nur tun?
Schrecken packte mich. Das war ein neuer Schlag. Die einzige Chance für die Rettung erschien mir, morgen früh irgendwie die Abschiebung in die sowjetische Zone zu vermeiden.
Der nächste Transport geht erst in drei Tagen. In diesen drei Tagen werden wir mit Oberst James in Verbindung treten und die Überführung unserer Leute ins polnische Lager erreichen, wobei wir uns auf die offizielle Liste stützen, in der sie als polnische Bürger aufgeführt sind. Und wenn nun eine neue offizielle Liste  jener Leute als sowjetische Bürger aufgestellt wird, dann wird geklärt werden, welche Liste mehr den Tatsachen entspricht und wir werden in einer auswegslosen Situation sein.
Auf die Worte von Major Anderson, daß er den Fall untersuchen werde, verließ ich mich nicht, da es bereits 10 Uhr abends war und man Oberst James nicht mehr belästigen konnte.
Zu uns kam der sowjetische Offizier, er wollte unser Gespräch mithören; er schrie, indem er von dem vorigen affektierten Ton in einen grob feindlichen wechselte:
– Sie Vater, zetteln Sie hier keine Agitation an, scheren Sie sich aus dem Lager fort, solange ich Sie noch hinauslasse.
Nun schrie ich auch:
– Ich frage Sie nicht, was ich tun soll. Ich weiß selber, was ich tun werde.
Der sowjetische Offizier ging hinaus.
Als Nachtlager wies man uns die allergarstigste, schmutzigste, nach Fäulnis riechende Baracke mit fettigen stinkenden Bettstellen an. Keiner ging in diese Unterkunft hinein. Wahnsinnig müde döste ich unter einem Baum ein.
Es war bereits 12 Uhr, als ein englischer Soldat zu mir trat:
– Der Major bittet Sie zu sich.
Ich ging zu Major Anderson, der an einem Tisch saß. Neben ihm stand der polnische Offizier, etwas entfernt davon, beim Eingang der sowjetische Offizier.
Mit hochgestochenem, kalten, unfreundlichen Ton wandte sich Anderson an mich:
– Mit welcher Begründung verletzen Sie die Regeln dieses Lagers?
Ich hatte auch keine Lust mehr, freundlich mit ihm zu sprechen.
– Was für Regeln sollen das sein?
– Sie hindern Ihre Leute daran, registriert zu werden.
– Weil Sie sie als sowjetische Bürger registrieren, während sie doch Polen sind.
– Sie sind keine polnischen Bürger, sie sprechen ja nicht einmal Polnisch –, unterbrach mich der polnische Offizier.
– Wenn ich sage, daß sie Polen sind, dann bedeutet dies, daß sie polnische Staatsbürger sind –, unterbrach ich meinerseits den polnischen Offizier. Dann zu dem Engländer gewandt, schrie ich:
– Schämen Sie sich nicht, Sie spielen mit dem Leben der Menschen, Sie wissen, was es für meine Leute, polnische Bürger, bedeutet, ins sowjetische Lager zu geraten und auf sowjetisches Territorium abgeführt zu werden.
– Keiner von ihnen wird in die sowjetische Zone gebracht, – sagte Anderson mit demselben kalten, hochmütigen Ton. Oberst James hat Ihre Angabe bestätigt, und morgen um sieben Uhr früh werden alle Ihre Leute in das polnische Lager gebracht.
– Was?, – rief ich –, ist das wahr?
– Ich sagte es Ihnen, – antwortete der Major mit demselben überheblichen Ton. – Aber Sie müssen sich bei dem polnischen und dem sowjetischen Offizier entschuldigen, weil sie ungehörig zu ihnen redeten.
– Bitte, gerne, auch 100 Mal –, rief ich aus. Und an den polnischen Offizier gewandt, sagte ich auf Englisch:
– Verzeihen Sie mir bitte, dear Sir.
– Schon gut, – antwortete der Pole.
Dann an den sowjetischen Offizier gewandt, redete ich ihn auf Russisch an:
– Verzeihen Sie mir, um Gottes willen, lieber Bürger Offizier!
Jener murmelte irgend etwas als Antwort, was ich nicht hören könnte. Ich rannte aus dem Zimmer des englischen Offiziers und eilte so schnell wie möglich, diese freudige Nachricht meinen Leuten zu bringen.
– Leute, morgen werden wir nicht in die sowjetische Zone verfrachtet, sondern um 7 Uhr morgens werden sie uns ins polnische Lager bringen!
Aber die Leute hatten bereits das Vertrauen zu mir verloren. Ich versuchte ihnen zu versichern, daß sie ohne Gefahr von hier wegkommen würden.
– Nirgends werden sie uns hinbringen. Wir wissen selber, was tun, – hörte man Stimmen. Ich fühlte, daß bald eine schreckliche Szene von massenweisem gegenseitigem Mord und Selbstmord einsetzen würde. Berichte über ähnliche Ereignisse in der amerikanischen Zone waren zu uns gelangt. Weil unsere Leute der freudigen Nachricht so gar mißtrauten, verblaßte auch meine fröhliche Gewißheit. Hat vielleicht der englische Major einfach gelogen, um die Leute zu beruhigen, ging es mir durch den Kopf. Zum Glück wußte ich damals nicht, wie der englische Marschall die Kosaken in Tirol betrogen hatte. Ich vertraute dennoch dem Wort des englischen Offiziers.
– Liebe Leute, – sprach ich zu ihnen –, bitte unternehmt heute nichts. Wartet bis zum Morgen. Wenn sie uns in die sowjetische Zone bringen, dann werde ich selbst euch erlauben, daß ihr euch gegenseitig und euch selber umbringt, weil der Tod besser ist, als in sowjetische Hände zu fallen. Aber ich denke nicht, daß dieser englische Major so gemein gelogen hat. Wartet bis 7 Uhr morgens.
Wenn ihr Unglauben mich angesteckt hatte, so übertrug sich auch meine Hoffnung teilweise auf sie. Keiner tat sich etwas an. Aber die Stimmung bei uns wurde noch angespannter, noch unerträglicher.
Die zwei Mädchen, die ich beim Eingang ins Lager getroffen hatte, kamen zu mir.
– Herr Bürger Priester, hier ist es nicht bequem für Sie, das ist eine schlechte Baracke. Kommen Sie lieber zu uns in die Verwaltungsbaracke, dort haben wir Abendessen und ein Lager für Sie hergerichtet.
Die ganze Nacht mit meinen Leuten bei ihrem wachsenden Mißtrauen in der prickeligen Lage zu sitzen, was unerträglich. Ich ging mit den Mädchen in die Verwaltungsbaracke. In einem der Zimmer, wo das untergeordnete Lagerpersonal wohnte, versammelten sich fünf junge Leute, drei Mädchen und drei junge Männer, die im Lager arbeiteten. Das Gerücht darüber, daß es mir gelang, die Überführung unserer Leute ins polnische Lager zu erreichen, und folglich die Möglichkeit für sie zu bleiben und nicht in die Sowjetunion zurück zu müssen, hatte sich schon im Lager verbreitet und rief sogar bei diesen, verhältnismäßig privilegierten sowjetischen Dienstleuten Interesse hervor.
– Herr Bürger Priester, warum wollen diese Bürger, die mit Ihnen kamen, nicht in die Heimat zurückkehren. Genosse Stalin sagte doch: Die Heimat erwartet euch, es ist Zeit, beim Aufbau mitzumachen.
Ich wußte nicht, wie antworten. Meine Karten vor ihnen, den Angestellten des sowjetischen Transitlagers, aufzudecken, war natürlich unmöglich. Aber ich wollte mich auch nicht in einer entfremdeten Zurückhaltung verschließen: Sie waren so freundlich zu mir in dieser schweren Minute und leisteten mir am Anfang solche Hilfe, weil sie mir gezeigt hatten, wo der engliche Offizier sich befindet. Außerdem verstand ich, daß ich ihnen wertvolle Hinweise geben könnte, wie sie dem schrecklichen Schicksal der Verschickung in sowjetische Hände entgegen können, wenn ich mich ein wenig öffne. Daher begann ich, ihnen die Situation vom offiziellen Standpunkt aus zu darzulegen:
– Die Worte Stalins beziehen sich nicht auf meine Leute, da sie keine sowjetischen Bürger, sondern Polen sind.
– Ach was, wie sollen sie denn polnische Bürger sein, wo sie gar nicht Polnisch sprechen.
– In Polen gab es bis zum Krieg in den östlichen Gebieten bis zu 8 Millionen Russen, Ukrainer und Weißrussen, von denen viele nicht Polnisch sprachen.
– Aber wie soll man dann unterscheiden, wer polnischer und wer sowjetischer Bürger ist? –, stellten sie selber die wichtigste, wesentlichste Frage.
Und ich malte ihnen das Bild ein wenig in offiziellen Worten:
– Leider kann man dokumentär nicht genau festlegen, wer polnischer und wer sowjetischer Bürger ist, weil die Deutschen sowohl den einen, wie den anderen die Dokumente abnahmen. Daher muß man sich mit mündlichen Angaben zufriedengeben: Wenn Sie angeben, daß sie sowjetische Bürger sind, und der sowjetische Offizier Sie als solche anerkennt, dann gelten Sie als sowjetische Bürger; aber wenn Sie erklären, daß Sie polnische Bürger sind, und der polnische Offizier Sie als zu seinem Staat gehörig anerkennt, dann gelten Sie als polnische Bürger.”
Ich freue mich, anzumerken, daß mein Rat nützte. Alle sechs traf ich später wieder in einem unserer Lager, in “Colorado” in der Nähe von Hannover.
Schlafen war in dieser Nacht unmöglich trotz der schrecklichen Müdigkeit. Diese jungen Männer und Frauen hätten mir ganz ungehindert die Kehle durchschneiden und am Morgen in die sowjetische Zone gehen können, wo sie für ihre Tat noch eine Belohnung bekommen hätten. In meinem Inneren erhoben sich Gebete, aber nicht jene friedlichen Gebete, welches man gewöhnlich spricht, sondern jenes Stoßgebet, welches sich uns alle noch vor kurzem, als die Bomben neben uns einschlugen, entrang: “Herr, errette mich, Herr, erbarme Dich, Herr, verschone mich!” – so brach es aus Tiefen der Seele hervor, wie man sie zu gewöhnlicher Zeit gar nicht in sich wahrnimmt
Um fünf Uhr, noch vor dem Ende der Sperrzeit, kam Vater Vitalij, der auf einem englischen Fahrzeug ins Lager fuhr, zu mir. Ihm war es, dem wir unsere Rettung verdankten. Am Vortag hatte er nämlich nicht auf meinen vereinbarten Telefonanruf gewartet, denn Böses ahnend fuhr er los und es gelang ihm eine Unterredung mit Oberst James zu bekommen, der feststellte, wo wir uns befinden und Major Anderson Anordnung gab, uns ins polnische Lager zu überführen.
Um 7 Uhr gaben sie uns Lastwagen. Ich ging mit Vater Vitalij zu den Chauffeuren, und fragte, wohin sie uns bringen würden.
 – Nach Wentorf (polnisches Lager), – antworteten sie, und beruhigten uns, was die Aufregung verminderte, die sich immer noch nicht ganz gelegt hatte.
Der englische Sergeant, der im Büro von Major Anderson Dienst tat, erlaubte Vater Vitalij beim Telefon zu bleiben. Wir vereinbarten wieder, daß, falls ich nach ein bis eineinhalb Stunden nicht anrufe, er Alarm wegen unserer Rettung schlagen werde. Wir bestiegen mit allen unseren Sachen die Lastwagen. Diesmal  setzte ich mich nicht zum Chauffeur in die Kabine, sondern in den Laderaum mit allen Leuten. Sie waren finster, redeten nicht, reagierten auf kein Lächeln, offensichtlich trauten sie mir überhaupt nicht. Neben mir saßen zwei kräftige breitschultrige Kerle, die feindlich dreinschauten. Ich rief Vater Vitalij auf Französisch zu:
– Wenn sie uns trotzdem in die sowjetische Zone bringen, dann brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen, ich komme nicht lebendig dorthin, diese Kerle werden mir noch vorher den Hals umdrehen. Wir setzten uns in Bewegung. Die Automobile nahmen sofort wieder die bestimmte Geschwindigkeit an. Die Straße in die sowjetische Zone verlief nach Lübeck, und ins polnische Lager Wentorf in eben dieselbe Richtung. Von Ferne sahen wir jenen Wegweiser, welcher die Abzweigung markierte: Wenn wir geradeaus fahren, bedeutet dies die sowjetische Zone, und nach rechts, das polnische Lager.
Unser Lastwagen jagte dahin, da kam der heiß ersehnte Wegpfeiler. Der Lastwagen flog heran und drehte nach rechts. Die Gemüter erfüllten sich mit Freude, ich bekreuzigte mich. Die Gesichter aller erhellten sich. Meine finsteren Nachbarn brachen in ein freudiges Lächeln aus und schauten auf mich. “Es scheint wohl, ins polnische” –,  sagten sie ein wenig verdutzt. Und da ist schon Wentorf. Hohe Gebäude, ein weiter Platz. Die große polnische Flagge über dem Hauptgebäude. Ich springe von dem Lastwagen. Zu mir kommt ein Auto mit einem Lautsprecher gefahren, und ich kenne mich nicht mehr vor Freude; im Jubel über das wiedergewonnene Leben und die Freiheit bekreuzige ich mich und schreie:
– Gott sei Dank, Leute, ich gratuliere euch, wir sind im polnischen Lager. Stellt euch vor dem Schalter rechts zur Registrierung auf.
Nach einigen Wochen gab es in Wentorf bereit 2000 russische Insassen. Ihr guter Schutzengel war der englische Captain Reymedge, ein Schotte, der Russisch sprach. Er verteidigte und ermutigte unsere Leute anläßlich der für sie unvermindert schrecklichen Besuche der sowjetischen Kommissare im Lager, die sie zu überreden suchten, nach Rußland zurückzukehren. Dank seiner Bemühungen bekamen die russischen Insassen des polnischen Lagers Wentorf gegen Herbst ihr rein russisches Lager Fischbek, in dem eine große geräumige Kirche aus zwei Nachbarbaracken geschaffen wurde. Bei der Kirche entstanden zwei Schulen, eine russische und eine ukrainische, es wurde sogar ein Gymnasium eingerichtet, höhere Theologie- und Pastoral-Kurse, in denen Bischof Pavel, Archimandrit Fedor und Priester, die sich jetzt in Amerika, Canada und Australien befinden, studierten. Ebendort wurden auch Kunstmal- und Ikonenmalschulen und Werkstätten gegründet. Dieses Lager blühte einige Jahre lang und blieb für all seine Bewohner in unvergeßlichr Erinnerung.