Predigt zum Herrentag aller Heiligen des Russischen u. Deutschen Landes (Röm. 1: 10-16; Hebr. 11: 33 – 12: 2; Mt. 4: 18-23; Mt. 4: 25 – 5: 12) (14.06.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

letzten Sonntag feierten wir das Fest aller Heiligen und gedachten der Worte der Heiligen Schrift. Im Alten Testament sprach Gott durch Moses zu Seinem Volk Israel: „Wenn ihr auf Meine Stimme hört und Meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern Mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt Mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören“ (Ex. 19: 5-6). Im Neuen Testament spricht Gott durch den Apostel Petrus zum Neuen Israel: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das Sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten Dessen verkündet, Der euch aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht gerufen hat. Einst wart ihr nicht Sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen, jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden“ (1. Petr. 2: 9-10).

Das Fest aller Heiligen ist Ausdruck der Katholizität der Kirche, in der es in Bezug auf die Erwählung und das Heil für die Getauften kraft des Glaubens keinerlei Unterscheidung ethnischer, sozialer oder geschlechtlicher Art gibt (s. Gal. 3: 27-29). Gleichwohl sind die sich in ihrer irdischen Existenz manifestierenden Unterschiede auch vor dem Angesicht ihres Schöpfers und Urhebers keineswegs aufgehoben. Dies bedeutet, dass Verschiedenheit von Gott gewollt ist, da nur sie überhaupt die Grundlage für einen schöpferischen Akt der Vereinigung bietet. Deshalb wollen wir uns nun aus Anlass des Festtages zu Ehren aller Heiligen unseres Landes mit der Frage auseinandersetzen, wie heute eine Nation ihrer Berufung durch Gott gerecht werden kann. Der russische Philosoph und Publizist I.A. Iljin (1883 – 1954) hebt in seinem Werk „Grundlagen der christlichen Kultur“ im Kapitel „Über den christlichen Nationalismus“ die Bedeutung dieses Dienstes hervor: „Das Nationalgefühl steht nicht nur in keinem Widerspruch zum Christentum, sondern es empfängt von ihm seine höchsten Sinn und sein Fundament: denn es schafft die Zusammengehörigkeit der Menschen im Geist und in der Liebe und klammert das Herz an das Höchste auf Erden – an die Gaben des Heiligen Geistes, die jedem Volk gegeben werden und die von jedem auf seine eigene Weise in der Geschichte und im kulturellen Schaffen verwirklicht werden“. Wäre dies nicht so, fährt Iljin fort, würde dies zu einer Uniformität nach Art der Sandkörner führen. Ein richtig aufgefasster christlicher Nationalismus hingegen wird immerfort auch die geistigen, kulturellen, zivilisatorischen Errungenschaften anderer Nationen würdigen und die religiösen Bekenntnisse andere Kulturen respektieren, und zwar so, wie man seine eigene Familie liebt und zugleich andere Familien nicht verachtet. Wahre Universalität erwächst aus dem Nationalismus, denn der echte Nationalist kann in der universalen Bruderschaft nur als lebendiger Vertreter seines Volkes und seines nationalen Geistes auftreten. Das Nationalgefühl kann gewiss auch missbräuchlich verwendet werden, wie Sport, Gift, Freiheit, Macht, Wissen; doch selbst wenn man Liebe, Kunst, Recht, Politik und sogar das Gebet entstellen kann, wird doch niemand ernsthaft all diese Dinge abschaffen wollen, so dass sich bei einem richtigen Verständnis des Nationalismus religiöses und nationales Gefühl nicht voneinander lösen und nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern miteinander verschmelzen und eine lebensvolle schöpferische Einheit formen, aus deren Schoß die nationale Kultur erwächst. Entscheidend dabei ist nach Iljin, dass der Pfad dieses historischen Kampfes und seines Leidens den Aufstieg zu Gott weist.

Jeder liebt seine irdische Heimat, auch wenn unsere wahre Heimat die himmlische ist (s. Hebr. 13: 14). Viele Christen haben Vollendung erlangt, weil sie ihrem Land und Volk sogar bis zum Tode gedient haben. Allerdings bewahrt uns die Kirche davor, Irdisches – und sei es die eigene Heimat oder das eigene Volk, als Gegenstand der Vergötterung zu betrachten. So verurteilte das Konzil von Konstantinopel 1872 den Ethnophyletismus als Häresie, da dieser die Liebe zum eigenen nationalen Erbe über Kirche und Glauben setzt. Anlass hierfür boten im zerbröckelnden Osmanischen Reich des ausgehenden 19. Jahrhunderts die aus dem Konflikt zwischen Phanarioten und den orthodoxen Völkern des Balkans hervorgegangenen uneinheitlichen Kirchenstrukturen auf dem bis dahin dem Patriarchat Konstantinopel zugehörigen kanonischen Territorium. Bereits damals erzeugten politische Umwälzungen ein Machtvakuum, das später zu der bis heute andauernden unübersichtlichen Lage mit unzähligen sich territorial überlappenden Jurisdiktionen in der Diaspora führte. Leidtragende ist dabei die Kirche selbst in ihrem missionarischen Wirken. Während sich die heutigen ethnisch-homogenen orthodoxen Gemeinden im westlichen Ausland quasi als informelle Kulturinstitute ihrer Herkunftsländer verstehen und den Einlass begehrenden „einheimischen Fremden“ sanft die Tür vor der Nase zuschlagen, versteht sich der wahre christliche Nationalist als Abgesandter Gottes, der sogar in der Verbannung das Wohl des ihn beheimatenden Landes im Sinn hat. So sprach Gott zu den Juden in Babylon: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die Ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl“  (Jer. 29: 7).

Gewiss beginnt dabei jeder erst einmal für sich als Individuum. Wie aber kann sich der Einzelne oder eine kleine Gruppe (Familie, Kirchengemeinde) in die Idee eines wahren christlichen Nationalismus einbringen? Was können sie tun, um nicht im Meer der sie umgebenden Andersartigkeit unterzugehen? Die Antwort ist schlicht und ergreifend: heilig sein (s. Ex.  22: 30)...

Noah erduldete Hohn und Spott wegen seiner Frömmigkeit, doch als die ganze Menschheit der Sünde verfallen war, blieb seine gottesfürchtige Familie von der Sintflut verschont, um Gottes Plan zur Erhaltung der ganzen übrigen Schöpfung (s. Gen. 7: 17 – 8: 22) zu erfüllen. Hiob war überhaupt der Einzige, der zu seiner Zeit Gott treu geblieben war, und er wurde nach schwersten Prüfungen für seine Treue belohnt (s. Hiob. 42: 10-17), so dass sein Geschlecht weiter Bestand haben konnte. Elias war der Verzweiflung nahe, sah die Apostasie seines Volkes, doch Gott tröstete ihn durch das Versprechen, zur Rettung Israels siebentausend Mann übrig zu lassen, die ihr Knie nicht vor dem Baal beugen würden (3. Kön. 19: 18;  Röm: 11: 4). Der hl. Sergij von Radonezh (+ 1392) ging als Einsiedler in die unendlichen Weiten der Wälder des Nordens, als die Kiewer Rus´ schon ein ganzes Jahrhundert von den Tataren verwüstet und geknechtet war, wobei mit dem sich abzeichnenden Ende der orthodoxen Kirche auch die eigenständige russische Kultur zugrunde zu gehen drohte. Heute steht am Orte seines einsamen geistlichen Kampfes das größte Kloster der Welt und bildet seither das spirituelle Herz der Russischen Kirche. Patriarch Ermogen schmachtete während der polnischen Besetzung Moskaus im Kerker, doch obwohl ihm Hände und Füße gebunden waren, erhob er von dort seine Stimme, die schließlich im fernen Nizhnij Nowgorod gehört wurde. Sein Opfertod war ursächlich für die  Befreiung seines Vaterlandes und für die spätere Blüte der Orthodoxie im größten Land der Erde. - Widrige, katastrophale, ja hoffnungslose Umstände waren noch immer das Fundament, auf dem Gott Großes durch seine Heiligen geleistet hat. Die Kirche wäre doch ohne das Blut der Märtyrer während der grausamen Verfolgungen im Römischen Reich niemals in ihrer unvergleichlichen geistlichen Pracht erstrahlt, hätte niemals solch zahlreiche und herrliche Koryphäen des Glaubens hervorgebracht. Selbst zu Zeiten relativer externer Prosperität des orthodoxen Glaubens, wie sie es im Byzantinischen oder Russischen Reich zuweilen gab, wuchs stets die Zahl der Diener des Herrn, die sich nach dem freiwilligen Martyrium sehnten. So entstand überhaupt das Mönchtum, als man nämlich, dem Täufer des Herrn nacheifernd, nicht um Verfolgungen zu entgehen in die Wüste ging, sondern wegen der spirituell ennuyierenden Behaglichkeit des weltlichen Lebens. So entstanden auch weiter immer neue Formen der Gefolgschaft Christi. Simeon der Säulensteher (+ 459) errichtete auf einem Pfahl eine erbärmliche Behausung von der Größe einer Hundehütte, in der er ununterbrochen seine sündhaften Leidenschaften kreuzigte. Hierdurch wurde er zu einem geistlichen Leuchtturm für viele und nahm sogar Einfluss auf die Politik des Kaisers. Er trat die Nachfolge Christi zu einer Zeit an, da das staatlich geförderte Mönchtum zu degradieren drohte, war geheiligtes Werkzeug in Gottes Händen zur Errettung vieler Menschen. Und schließlich waren da die Narren um Christi willen, wie der selige Isidor (+ 1474), die statt in der Einöde mitten in der Stadt lebten. Sie taten alles, um das dauerhafte Martyrium von ihren bigotten Glaubensbrüdern erleiden zu dürfen, indem sie zunächst deren Unaufrichtigkeit im Glauben bloßstellten und sie dann durch Gottes Gnade auf den Weg der Tugend führten. Sie alle waren von jener Liebe inspiriert, die nach den Worten des Evangeliums ihresgleichen sucht (s. Joh. 15: 13).

Folglich kann auch jeder von uns auf seine Weise das ihm von Gott gegebene Charisma in der Kirche verwirklichen (s. 1. Kor. 12: 11). Wir alle sind, jeder für sich genommen, eingebunden in ein Geflecht von nationaler Identität, soziokulturellen Zusammenhängen und persönlichen Beziehungen. Zu diesem sozialen Umfeld gehört nicht zuletzt auch unsere Kirchengemeinde. Das alles bildet die Grundlage für das Wachstum im Glauben, um das wir während einer jeden Liturgie beten. Gott gibt uns in der Kirche (deren Urbild die Arche ist) alles, was wir benötigen, um trotz heftigster Stürme auf See im sicheren Fahrwasser zu bleiben. Wir sollten aber nicht meinen, dass unsere Berufung darin besteht, als Passagiere der Luxusklasse die Beine auf dem Sonnendeck ausstrecken zu können. Vielmehr sollte sich jeder seiner Verantwortung gewahr werden – als Stewart, Maschinist, Matrose, Offizier oder Kapitän. Die Geschichte lehrt, dass manchmal von einem Menschen das Schicksal einer ganzen Nation abhängen kann – wie im Guten, so auch im Bösen. In jeder Nation bzw. in jeder Gesellschaft gibt es immer etwa zwei gleichgroße Gruppen, die etwa jeweils 5% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die eine Gruppe bemüht sich, das Volk zum Guten zu bewegen, die andere – ins genaue Gegenteil. Die übrigen 90% bilden die graue Masse, die ständig nur darauf „wartet“, von einer der beiden antagonistischen Gruppen vereinnahmt und geführt zu werden. Welche der beiden Gruppen sich durchsetzt, wird darüber entscheiden, wohin sich das ganze Volk am Ende wendet. Mir ist dabei völlig klar, dass Gott wirklich k-e-i-n-e-n für die passive Zugehörigkeit zur grauen Masse geschaffen hat. Irgendwann wird sich jeder ohnehin entscheiden müssen. Wenn er sich jetzt bewusst und aus Überzeugung für Gottes Werk entscheidet, wird es ihm später erspart bleiben, entsprechend der Gesetze des Herdentriebs letztlich doch dem Bösen zu verfallen und dann sein Gewissen mithilfe der üblichen Abwehrmechanismen von jeglicher Schuld freisprechen zu müssen. Und je früher diese Entscheidung getroffen wird, desto besser für die Erfüllung von Gottes Heilsplan, für die Kirche Christi und, selbstverständlich, für den Betreffenden selbst. Denn die Erfüllung der Prophezeiung des Herrn an Daniel rückt unaufhaltsam näher: „Dann kommt eine Zeit der Not, wie noch keine da war, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Doch dein Volk wird zu jener Zeit gerettet, jeder der im Buch verzeichnet ist. Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten“ (Dan. 12: 1-4).

Von jedem einzelnen hängt nunmehr auch ab, wie viele seiner Mitbrüder und -schwestern im Buch des Lebens (s. Ex. 32: 32;  Ps. 68: 29;  Phil. 4: 3;  Offb.  3: 5;  13: 8;  17: 8;  20: 12, 15;  21: 27) eingeschrieben sein werden. „Deshalb heißt es: Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten und Christus wird dein Licht sein“ (Eph. 5: 14). Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch