Predigt zum Herrentag von der Samariterin (Apg. 11: 19-26, 29-30; Joh. 4: 5-42) (10.05.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

am heutigen fünften Sonntag der Osterzeit werden wir Zeugen einer langen Unterhaltung zwischen dem Herrn Jesus Christus und einer samaritischen Frau am Jakobsbrunnen. In der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten wird in der Kirche überwiegend aus dem Johannes-Evangelium gelesen, das im Vergleich zu den synoptischen Evangelien nicht bloß eine „Bericht erstattende“ Funktion erfüllt, sondern durch seine unergründliche spirituelle und mystische Tiefe hervorsticht. Ein markantes Beispiel hierfür ist das heutige Gespräch mit der Samariterin, das wir heute im gemeinsamen Kontext mit den anderen Lesungen aus dem Johannes-Evangeliums während der Osterzeit – der Aufrichtung des Gelähmten und der Heilung des Blindgeborenen – betrachten wollen.

In allen drei Lesungen steht das Wasser für die lebenspendende Gnade Gottes. Aber bei Gott läuft nichts nach „Schema F“ wie bei den Menschen: der Gelähmte wird geheilt, ohne überhaupt in das sich aufwühlende Wasser springen zu müssen, die sich bester körperlicher Gesundheit erfreuende Samariterin wird allein durch die Worte vom lebendigen Wasser von ihrer Sündhaftigkeit befreit, und der Blinde wird durch die direkte Berührung mit dem Wasser sehend. Jedem hält der Herr das individuell auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Rezept bereit. Alle diese drei „Zielpersonen“ treffen mit ihren irdischen Problemen auf Gott: der Gelähmte und der Blinde mit ihren körperlichen Gebrechen, die Samariterin – ein paar Kategorien darunter - ist wohl des ständigen Wasserschöpfens überdrüssig (s. Joh. 4: 15). Auch unsere Alltagsprobleme haben eine große Bandbreite – von echter existenzieller Not über Kinkerlitzchen bis hin zu schnöder notorischer Unzufriedenheit derer, die eigentlich alles haben, um glücklich und dankbar sein zu können. Manche finden auf der Suche nach dem individuellen Glück auch tatsächlich den Weg zu Gott, und erfahrungsgemäß sind es die, deren Leid am größten ist. Von der Ausgangsposition unterscheiden sich unsere drei Nebenhauptdarsteller aus dem Johannes-Evangelium: der Gelähmte kannte aus seiner Jugend noch den Zustand der körperlichen Unversehrtheit, die er infolge seines sündhaften Lebenswandels verloren hatte (s. Joh. 5: 14), der Blinde hatte von Geburt an hingegen nur Finsternis gekannt und litt völlig ohne eigenes Verschulden (s. Joh. 9: 3), während für die Samariterin das Wort „Sünde“ bis zur Begegnung mit dem Herrn bestenfalls eine Nebenkategorie des Lebens darstellte. Kommt uns irgendwie bekannt vor, nicht wahr? - Welch ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass das vor zweitausend Jahren in einem uns völlig fremden Kulturkreis eines Randbezirks des Römischen Reichs entstandene Evangelium eine wahrlich ewige Aktualität besitzt wie sonst nichts auf der Welt! Wie viele Bücher wurden seit Menschengedenken geschrieben, wie viele Systeme, Weltanschauungen und Doktrinen sind seither auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt worden?! Die brandaktuelle „Bild“ ist morgen schon Altpapier, aber das Evangelium ist zeitlos, es ist das Buch der Bücher – unbewusst und ungewollt als solches anerkannt sogar von denen, die es mit allen Mitteln bekämpfen wollen...

Man könnte so viel über jene drei Einzelschicksale reflektieren, doch heute steht die „Heilung der Gesunden“ im Mittelpunkt unseres Interesses. Aus dem bekannten Ausspruch des Herrn: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“ (Mt. 9: 12) wissen wir, dass z.B. die Pharisäer sich für „gesund“ hielten und somit meinten, keinen Bedarf an „ärztlicher“ Hilfe anmelden zu müssen. Wir wissen alle, dass jeder Heilung eine Diagnose vorausgeht, was aber voraussetzt, dass der Betreffende sich seiner Beschwerden bewusst ist. Es gibt doch kaum etwas Schlimmeres, als wenn ein Kranker lange Zeit in Unkenntnis über seinen wahren Gesundheitszustand gelassen wird. Mit eben so einem Kranken können wir die Samariterin vergleichen.

Das Evangelium klärt uns eindeutig darüber auf, dass seelische Gebrechen unvergleichlich schlimmere Folgen haben als körperliche. Dennoch gibt es bei Ersteren den Vorteil, dass diese allein schon durch Selbsteinsicht und freie Willensbekundung jederzeit und sofort geheilt werden können. Die Wartezeit bei diesem Arzt ist gleich Null, man braucht auch keine Chipkarte, um zu Ihm vorgelassen zu werden. Er erhört jeden und heilt ihn im Nu, so es der Betreffende selbst will. Und auch Seine manchmal unbeholfenen „Assistenzärzte“ können bei Vorhandensein der genannten Voraussetzungen nicht viel falsch machen, um durch die Verschreibung der heilbringenden sakramentalen Arzneien die volle Gesundheit des Patienten wiederherzustellen.

Ich glaube, auch jeder Ungläubige begegnet Christus auf die eine oder andere Weise in seinem Leben – sei es indirekt durch Begegnung mit einem wirklich gläubigen Menschen, durch die Lektüre eines geistlichen Buches, das Hören einer Predigt oder aber durch eine direkte persönliche Begegnung mit dem Herrn. So waren z.B. Metropolit Anthony (Bloom, + 2004) und Priestermönch Gabriele (Invernizzi) in ihrer Jugend überzeugte Atheisten, bis sich ihnen Christus still und unsichtbar, doch im Herzen empfindbar offenbarte. 

Auch wir halbherzige Gläubige hätten, wie die Samariterin, alle den Bedarf, dass uns „Jemand“ die ganze Wahrheit über uns offenbart. Mit hochrotem Kopf und Tränen überströmt würden wir Ihm wohl zu Füßen fallen und Ihm für diese Heilung danken. Wir brauchen dabei aber gar nicht auf eine geheimnisvolle mittägliche Begegnung an einem Brunnen in einem fernen Land warten. Die Quelle des „lebendigen Wassers“ (Joh. 4: 10) fließt in jeder Kirche und die ungeschminkte Wahrheit über sich selbst kann jeder, der es wirklich will und bemüht ist, mit Gottes gnädiger Hilfe im Mysterium der Buße erfahren. Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch