Predigt zum Hochfest des Einzugs des Herrn in Jerusalem / Palmsonntag (Phil. 4: 4-9; Joh. 12: 1-16) (05.04.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

gestern feierten wir die Auferweckung des Lazarus, weshalb im Orthros zum Lazarus-Samstag die Auferstehungstroparien gesungen wurden, die wir sonst nur sonntags singen. Dafür werden am heutigen letzten Sonntag vor dem großen Tag der Auferstehung keinerlei Auferstehungshymnen gesungen. Auch wenn dies unbestritten ein Festtag ist und wir angesichts der vielen Leute geneigt sind zu denken, es sei schon fast Ostern, überwiegt immer noch der Gedanke daran, dass der triumphale Einzug des Herrn in Jerusalem, im Grunde genommen, der Gang des Lammes Gottes zur Schlachtbank ist. „Hosanna! Gesegnet sei, Er, Der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ (Joh. 12: 13;  vgl. Ps. 117: 26), riefen die Leute. Welch ein Spektakel! Welch eine Begeisterung!...

Es mag einen verwundern, dass zwar alle vier Evangelisten weitestgehend übereinstimmend (was selten genug der Fall ist) den Einzug des Herrn in Jerusalem als solchen schildern, aber nur einer die eigentliche Ursache für die Euphorie der Massen erwähnt (s. Joh. 12: 17-18). Einen offensichtlichen Grund für den Triuphzug lassen die drei Synoptiker zu keiner Zeit erkennen. Dieser wird nur aus dem Evangelium nach Johannes ersichtlich, da der Lieblingsjünger des Herrn als einziger über die Auferweckung des Lazarus schreibt. Metropolit Antonij (Khrapovitskij, + 1938) erkennt hierfür historische Rahmenbedingungen als ursächlich an. Während die Synoptiker ihre Evangelien noch während der Existenz eines jüdischen Staatswesens unter der Herrschaft Roms verfassten, entstand das Johannes-Evangelium erst nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. Die ersten drei Evangelisten mussten folglich noch auf die zu ihrer Zeit zunehmend vorherrschenden Tendenzen eines politischen Umsturzes Rücksicht nehmen, weshalb sie aus Furcht vor Aufdeckung der revolutionären Pläne unerwähnt ließen, dass ihre Landsleute zwar in Jesus aus Nazaret sehr wohl den Messias erkannt hatten, Ihn aber zu ihrem irdischen König machen wollten (s. Joh. 6: 15). Bei einem noch bestehenden jüdischen Staat unter römischer Herrschaft hätte die geringste Andeutung über subversive Bestrebungen einen Verrat am eigenen Volk bedeutet. Diese Faktoren musste Johannes um das Jahr 100 n. Chr. nicht mehr in Erwägung ziehen, weil die Juden da schon weitestgehend in der Diaspora lebten.

Die Entlarvung dieses zunächst womöglich belanglos anmutenden Aspekts des politischen Messianismus ist für uns heute von zentraler heilsrelevanter Bedeutung. Wir lasen doch so oft davon, dass der Herr zahlreiche wunderbare Zeichen wirkte und überall von riesigen Menschenmassen begleitet bzw. empfangen wurde. Alle liefen Ihm hinterher, solange sie sich Heilung von seelischen oder körperlichen Gebrechen oder die Befreiung von der Fremdherrschaft erhofften. Doch wo waren all diese Menschen, als der Herr schändlich verraten und in einer geheimen nächtlichen Aktion gefangengenommen wurde?! Selbst die treuesten der Treuen verließen Ihn, bis auf wenige Ausnahmen. 

Auf tragische Weise bewahrheiteten sich, damals wie heute, die Worte des Herrn: „Nicht jeder, der zu Mir sagt: ´Herr! Herr!`, wird ins Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen Meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt. 7: 21). Deshalb heißt es ja auch:  „Dein Wille geschehe!“ - Wir aber wollen, dass unser Wille geschieht. Und nicht genug damit, unserer Glaube und unsere Frömmigkeit verfolgen doch in Wirklichkeit nur ein Ziel – nämlich Gott zur Erfüllung unseres Willens zu bewegen. Aber ist das Glaube, ist das Hoffnung, ist das Liebe? - Nicht wirklich. Wie störrische Kinder denken wir nicht an den Willen des Vaters im Himmel und wollen stattdessen unseren Kopf auf Erden durchsetzen. Deshalb rufen auch wir zumeist vergeblich „Herr! Herr!“. Dabei liegt in diesem einen Wort „Herr“ (hebr. Adonai, griech. Kyrios, lat. Dominus, slaw. Господь) der Schlüssel zum Verständnis unseres ganzen Glaubens. Die Kirche Christi wurde im Römischen Reich der vor-konstantinischen Ära grausam verfolgt, aber warum?! Die Christen waren doch nahezu ausnahmslos vorbildliche und loyale Staatsbürger (s. Joh. 19: 11;  1. Petr. 2: 17;  Röm. 13: 1, 6;  1. Tim. 2: 2;  Tit. 3: 1) und das in religiöser Hinsicht mehr als tolerante heidnische Weltreich nahm bereitwillig die Götter der eroberten Völker in seinen Pantheon auf, so dass die griechisch-römische Kultur eigentlich keinen Grund gehabt hätte, dem Christentum mit Argwohn oder gar Feindschaft zu begegnen (s. Apg. 17: 22). Warum dann die Christenverfolgungen? - Oftmals wird die Vermutung geäußert, das Christentum selbst habe die Verfolgungen dadurch provoziert, dass es nur einen Einzigen statt vieler als Gott anerkennen wollte. Diese Mutmaßung entbehrt jedoch jeglicher historischer und theologischer Grundlage, da auch dass monotheistische Judentum in seiner Exklusivität zumindest bis zur Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. von der weltlichen Macht respektiert worden war (s. Joh. 18: 28-29;  Apg. 23: 29;  25: 20). Woran also lag es dann, dass gerade die Religion verfolgt wurde, die als einzige die Liebe zu den Feinden predigte, ihre Angehörigen zur Loyalität gegenüber der Staatsmacht erzog und somit keinerlei Bedrohung für Staat und Gesellschaft darstellte?

Wie wir schon sagten, liefert uns der Begriff „Herr“ des Rätsels Lösung.

Solange diese Anrede bloß einem weltlichen Herrscher galt, hatten die Christen damit kein Problem und entboten dem irdischen Kaiser nach Gebühr die Ehre (s. Mt. 22: 21;  Mk. 12: 17). Als jedoch die römischen Cäsaren ihrer Person gegenüber die Anbetung als Gottheit einforderten, mussten sich die Christen davon distanzieren (s. Ex. 20: 2-5). Plötzlich hatte das Wort „Kyrios“, das die Christen aus dem in griechischer Sprache verfassten Originaltest des Neuen Testaments als Bezeichnung für Gott kannten, eine andere Konnotation in Bezug auf den römischen Kaiser. Der weltliche Herrscher hatte nun den Platz des Weltenherrschers eingenommen, doch dem hatten sich die wahren Diener Gottes bereits vor Beginn der christlichen Ära (1. Makk. 1: 54) widersetzt, und genauso werden sie es auch zum Ende dieses Äons tun, sobald sie den „unheilvollen Greuel“ (Mt. 24: 15; Mk. 13: 14;  Dan. 9: 27; 11: 31; 12: 11; ) am heiligen Ort sehen werden. Die wahren Christen werden niemals einen Menschen akzeptieren, der sich an die Stelle Gottes auf Erden setzt (s. 2. Thess. 2: 4). Christen aller Epochen gaben bereitwillig und unerschrocken ihr Leben für die Rettung und das Wohl ihrer irdischen Heimat, waren aber selbst unter Androhung von Folterqualen und Hinrichtung nie bereit, irgendjemandem oder irgendetwas die nur Gott geziemende Anbetung darzubringen.

Aber genau das passiert doch, wenn wir Christus nicht wegen Seiner Selbst und um Seiner göttlichen Lehre willen anhängen, sondern Vergängliches an oberster Stelle unserer Prioritätenskala ansiedeln. Denn alles, was wir über Christus stellen, machen wir unbewusst zu unserem „Gott“ (z.B. Familie, Karriere, Ideologie, Geld), auch wenn wir uns dabei einbilden, Gott „in unserem Herzen“ zu haben: „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt. 6: 21; vgl. Lk. 12: 34). Wir müssen uns vehement davor hüten, einem Gottes-Surrogat (z.B. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) an Gottes Statt zu dienen bzw. einer nach der jeweiligen politischen oder gesellschaftlichen Konjunktur ausgerichteten Pseudo-Kirche zu verfallen*). Der Widersacher wird nämlich auch weiterhin nichts unversucht lassen, um das Volk Gottes sogar mit priesterlichem Beistand ein ums andere Mal um das goldene Kalb tanzen zu lassen (vgl. Ex. 32). Und  latente Gefahren durch Ersatz-Religionen, die nicht einmal die formale Aufkündigung der Gefolgschaft Christi fordern, gibt es genug. „Achtet also darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht töricht, sondern klug“ (Eph. 5. 15). Wehe uns, wenn die Worte des Herrn auf uns zutreffen sollten: „Dieses Volk ehrt Mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von Mir. Es ist sinnlos, wie sie Mich verehren; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen“ (Mk. 7: 6b-7;  vgl. Jes. 29: 13). Auch göttliche Satzungen werden zu „menschlichen Geboten“  (Jes. 29: 13), wenn sie nicht mit dem Herzen und nicht im Einklang mit Gottes Willen befolgt werden. Das trifft auf jene Christen zu, deren jetzige Begeisterung in Hass, Wut und Enttäuschung umschlägt, „weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten“ (2. Thess. 2: 10b). Und das wäre unvergleichlich schlimmer, als der totale und endgültige Verlust aller irdischen Güter. 

Amen.

 

*) Wer vor wenigen Monaten gesehen hat, was Männer in Priesterkleidung auf dem Maidan veranstaltet haben, hat eine Vorstellung, wovon hier die Rede ist.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch