Predigt zum ersten Herrentag der Großen Fastenzeit / Triumph der Orthodoxie (Hebr. 11: 24-26; 32 – 12: 2; Joh. 1: 43-51 ) (01.03.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

die Evangeliumslesung während der Göttlichen Liturgie am heutigen ersten Höhepunkt der Großen Fastenzeit ist ein Anschauungsbeispiel für die bedingungslose Liebe unseres Herrn zum Menschen. Philippus, der gerade erst selbst vom Herrn berufen worden war, berichtet im Überschwang der Gefühle seinem Freund Natanael: „Wir haben Den gefunden, über Den Moses im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs“ (Joh. 1: 45). Doch Natanael übt sich zunächst in Zurückhaltung: „Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?“ (1: 46). - Woher diese Skepsis? - Erzpriester Georgij Mitrofanov sieht in Natanael einen typischen Vertreter des Judentums seiner Zeit, einen, der meint, die Schriften zu kennen und bei dem das „heidnische Galiläa“ (Mt. 4: 15), in dem Nazaret liegt, nur negative Assoziationen hervorrufen kann. Doch trotz seiner Vorbehalte folgt Natanael dem Aufruf seines Freundes Philippus: „Komm und sieh!“ (Joh. 1: 46). Und hier werden wir Zeugen dessen, was wirklich wunderbar ist: „Jesus sah Natanael auf Sich zukommen und sagte über ihn: Da kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit“ (1: 37). Mit anderen Worten, einer, der immer frei von der Leber sagt, was er denkt, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält. Es ist eine liebevolle Anspielung auf das selbstherrliche Überlegenheitsgefühl des auserwählten Volkes, das Natanael repräsentiert. Christus setzt aber noch einen drauf, gibt Natanael auf dessen Frage: „Woher kennst Du mich?“ (1: 48a) zu verstehen, dass seine menschliche Einbildung in Wirklichkeit nur Ignoranz im Vergleich zu Gottes Allwissenheit ist. Mit den Worten: „Schon bevor dich Philippus rief, habe Ich dich unter dem Feigenbaum gesehen“ (1: 48b) zeigt ihm der Herr, dass Er alles über ihn weiß, wohl auch Kenntnis darüber hat, dass Natanael, unter dem Feigenbaum stehend, ernsthaft zu Gott gebetet hatte, er möge doch den Messias zu Gesicht bekommen. Was aber ist so erstaunlich an besagten Worten, wenn man mal von den vergleichsweise geringfügig offenbarten „seherischen“ Fähigkeiten des Herrn absieht?! Jedenfalls veranlassen diese Worte Christi Natanael zu dem euphorischen Ausruf: „Rabbi, Du bist der Sohn Gottes, Du bist der König von Israel“ (1: 49). - Dies ist wohl nur dadurch zu erklären, dass die Begenung mit Jesus aus Nazaret quasi die postwendende Antwort auf das Gebet unter dem Feigenbaum war. Es war die Erwiderung der flehentlichsten Bitten, der eindringlichsten Hoffnungen und freudevollsten Erwartungen nicht nur Natanaels, sondern in seiner Person ganz Israels, ja aller Völker der Erde. - Und die Antwort des Herrn lässt nicht lange auf sich warten: „Du glaubst, weil Ich dir sagte, dass Ich dich unter dem Feigenbaum sah? Du wirst noch Größeres sehen. Und Er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und  die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn“ (1: 51) ... Er sprach zu ihm in der Mehrzahl!.. - Hier ist sie also, die Frohe Botschaft: Gott nimmt den Menschen so an, wie er ist – mit all seinen Schwächen und Verirrungen, um ihn trotzdem zum Erben der himmlischen Herrlichkeit zu machen. Voller Sanftmut sagt Er entweder direkt, wie zu Philippus, „Folge Mir nach!“ (1: 43), oder Er lässt diesen Aufruf durch einen schon Berufenen an den noch auf der Suche Befindlichen ergehen: „Komm und sieh!“ (1: 46). Jeder Mensch erfährt in der Gemeinschaft mit Christus eine Liebe, die nur Gott geben kann! Was ist da schon die altersbedingte Überheblichkeit eines jungen Mannes wie Natanael, der sich zwar lediglich innerhalb der Grenzen seiner Gedankenwelt bewegt, der sicherlich auch seine Ecken und Kanten hat, der aber immerhin nach der Wahrheit strebt?! - Wenn der Mensch nur seine geistlichen Augen auftut, wird er „noch Größeres sehen“, dass nämlich Zöllner, Ehebrecherinnen und Räuber, bisweilen sogar hartherzige Pharisäer bis hin zu erklärten Feinden Gottes von der Liebe ihres Schöpfers überwältigt werden. Aber Gott der Allmächtige will, dass der Mensch auch einen selbstverdienten Anteil an dieser Gnade hat. Er will, dass die von Ihm Geliebten ihrerseits auf ähnliche Weise Liebe ausstrahlen. Daher auch die logische Konsequenz, dass wirkliche Liebe zu Gott ohne Liebe zum Menschen unmöglich ist (s. 1. Joh. 3: 10), wie auch die wahre Liebe zum Menschen - also die, welche über die menschliche Natur hinausgeht (s. Mt. 5: 46) –  ohne die Liebe zu Gott nicht möglich ist: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet“ (Mt. 5: 44-45). Als Söhne Gottes müssen wir nicht so lieben, wie es die Menschen tun, sondern wie Gott – nämlich bedingungslos. Aber wer von uns betet schon für die, die ihn bedrängen, beleidigen, beschimpfen, betrügen?..

So wie Gott den Menschen liebte, als dieser noch Sein „Feind“ war (s. Röm. 5: 10), so gab Er ihm auch dieselbe Fähigkeit, das Böse durch das Gute zu überwinden (s. Röm. 12: 21). Dies ist aber nur durch die Gnade des Heiligen Geistes möglich, die der Mensch vornehmlich durch Gebet und Fasten erlangen kann, wofür unzählige Heilige auch in der heutigen Apostellesung (s. Hebr. 11: 32 – 12: 2) beredtes Zeugnis ablegen. 

Womöglich sollte das die Botschaft aus Anlass des heutigen Triumphes der Orthodoxie sein, und nicht das Schwelgen in nostalgischen Erinnerungen an eine Zeit, als die Orthodoxie Staatsreligion in einem Weltreich war. Das größte Bedürfnis eines Christen sollte doch sein, nach dem Beispiel der Heiligen die „Schmach des Messias“ (Hebr. 11. 26) in der freiwilligen Erniedrigung mit unserem Herrn zu teilen. „Da uns eine solche Wolke von Zeugen umgibt, wollen auch wir alle Last und Fesseln der Sünden abwerfen. Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist, und dabei auf Jesus blicken, den Urheber und Vollender des Glaubens; Er hat angesichts der vor Ihm liegenden Freude das Kreuz auf Sich genommen, ohne auf die Schande zu achten, und Sich zur Rechten von Gottes Thron gesetzt“ (12: 1-2). Wollen folglich auch wir uns in den noch vor uns liegenden Wochen in Ausdauer üben; wollen wir angesichts der vor uns liegenden Osterfreude in zwei Wochen vor dem Kreuz des Herrn, dem Zeichen der göttlichen Selbsterniedrigung, niederfallen; wollen wir vereint in den Leiden, dem Tod und der Auferstehung des Herrn in der Hoffnung leben, mit Ihm als Kinder Gottes „zur Rechten von Gottes Thron gesetzt“ zu werden. Das wird allerdings nur geschehen, wenn wir in diesen geheiligten Wochen „mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen“ und dadurch Christus dem Herrn in Seiner Liebe und Demut nacheifern. 

Amen.

Jahr:
2015