Predigt zum Herrentag vom verlorenen Sohn / Synaxis der Neuen Martyrer und Bekenner von Russland (1. Kor. 6: 12-20; Röm. 8: 28-39; Lk. 15: 11-32; Lk. 21: 8-19) (08.02.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

mit dem heutigen Tag haben wir ein weiteres Etappenziel zur Vorbereitung auf die wichtigste Zeit des Kirchenjahres erreicht. Wie es schon vor Wochenfrist anklang, sorgt sich die Kirche dafür, dass wir mit der richtigen Einstellung des Herzens uns auf den Weg zurück in die ausgebreiteten Arme des Himmlischen Vaters machen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn verdeutlicht uns, wie unendlich groß Gottes Güte, Seine Langmut und Seine verzeihende Milde gegenüber dem gefallenen Menschengeschlecht ist. Vor allem dürfen wir angesichts dieser Güte getrost sein, dass selbst die Bosheit aller Menschen zusammengenommen nur ein kleiner Tropfen im Vergleich zum Ozean der göttlichen Gnade ist. Ja selbst die Bosheit des Teufels ist endlich - er ist ja auch nur ein (gefallener) Engel – wohingegen Gottes Gnadenreichtum unerschöpflich ist. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt aber auch auf, welch verheerende Wirkung die Verführungen dieser Welt auf das Seelenheil haben können. Wie der jüngere Sohn in dieser Parabel, der nicht bis zum Ableben des Vaters warten wollte, sondern schon vorher seine Erbe antreten wollte, um das Leben in vollen Zügen genießen zu können, so wollen auch wir Menschen allzu oft schon vorzeitig – also in diesem Leben – alle (sinnlichen) Vergnügungen auskosten. Und der Widersacher wird ihm jedes Mal den Weg zum Glück ohne Gott anbieten.  Wer aber solcherart dem Laster fröhnt, wird bald merken, dass er sich als Abbild Gottes auf das Niveau unreiner Tiere begibt. Trotzdem darf er auch dann immer mit der verzeihenden Milde des Herrn rechnen, sobald er nämlich  Bereitschaft zur Umkehr zeigt. Gott wartet in Seiner Langmut auf die Umkehr des Menschen, der bis dahin noch mit Vollgas in einer Sackgasse unterwegs ist.

Trotzdem mag sich der eine oder der andere fragen, weshalb es in Gottes Heilsplan dann wohl nötig war, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Wenn Gott die Liebe Selbst ist – warum konnte Er nicht einfach sagen: „Schwamm drüber! Ich will noch einmal ein Auge zudrücken“?..

Gott ist nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch ein Gott der Wahrheit. Das ist ja auch ein Grund dafür, warum sich die Kirche Christi nicht „aus Liebe“ um jeden Preis mit allen nur erdenklichen „christlichen“ Gemeinschaften vereinigen kann (s. Tit. 3: 10-11), wenn nicht zuvor auf dem Fundament der Wahrheit Einmütigkeit erzielt worden ist. „Gerecht ist der Herr in all Seinen Wegen und heilig in all Seinen Werken“ (Ps. 144: 17). Es gibt keinen Weg, der unter Umgehung der Wahrheit in das Leben führt (s. Joh. 14: 6). Schließlich kann auch die eheliche Gemeinschaft nicht aus „Nächstenliebe“ auf Dritte ausgeweitet werden. Und wenn Gott den Menschen gewarnt hatte, dass die Strafe für den Ungehorsam der Tod sein würde, konnte Er Seine eigenen Worte nicht ad absurdum führen, denn dann hätte der „Vater der Lüge“ (s. Joh. 8: 44) am Ende auch noch Recht behalten (s. Gen. 3: 4). Da Gott aber ein Gott der Liebe ist, löst Er das Problem auf Seine Weise. Er hätte den Menschen mit seinem Dilemma allein lassen, zu ihm sagen können: „Das ist deine Sache“ (vgl. Mt. 27: 4) – tat Er aber nicht. Stattdessen machte Gott das „Problem“ des Menschen zu Seinem „Problem“ – wurde Mensch, nahm die gerechte Strafe des Menschen auf Sich, kostete für den Menschen den Tod und befreite ihn durch Seine Auferstehung von der Macht der Sünde. Somit ist Er ein Gott der Liebe und der Wahrheit. Und wie es das Gleichnis vom verlorenen Sohn ausdrückt, ist Gottes Liebe für den in Sünde Gefallenen so groß wie vorher, aber der Zustand des Menschen ist nach der Versöhnung mit Gott – und darin liegt die unergründliche Weisheit und die jeglichen menschlichen Verstand übersteigende Güte Gottes! - unvergleichlich herrlicher, als es vor dem Sündenfall gewesen ist: „Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod Seines Sohnes, als wir noch (Gottes) Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch Sein Leben“  (Röm. 5: 10) - so wie eben die Liebe zwischen zwei versöhnten Feinden (zumindest gefühlt) größer ist, als sogar die Liebe zwischen zwei jahrelangen Freunden. Der ältere Sohn aus dem Gleichnis, der für menschliches Denken steht, konnte oder wollte Gottes Heilsordnung nicht verstehen (s. Lk. 15: 29-32), denn „für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn bei Gott ist alles möglich“ (Mk. 10: 27). 

 

A propos,Versöhnung zwischen Feinden. Im Buch „Die nicht heiligen Heiligen“ («Несвятые святые») von Archimandrit Tichon (Shevkunov) kommt in einem Kapitel Archimandrit Ioann (Krestiankin, + 2006) zu Wort. Er erinnert sich an eine Begebenheit aus seiner frühen Jugend, als ein von ihm hochgeschätzter Abt (und späterer Bischof) am Tag nach dem Vergebungssonntag (!) zwei schuldig gewordene Mönche aus dem Kloster jagt. Was dem jungen Wanja damals unbegreiflich war, erklärte der spätere Starez Ioann so: „Im Moment der Vertreibung begann schon die Vergebung“. Aber diese Vergebung muss ein langwieriger, mühsamer und sogar leidvoller Prozess sein! Wenn ich mich gegen meinen Vater schwer versündigt habe, könnte er mir in seiner Güte vielleicht auch schnell vergeben; die Frage ist aber, ob ich so eine schnelle, einfache und billige Vergebung überhaupt möchte!.. Vielmehr will ich die Möglichkeit haben, mir diese Vergebung zu „verdienen“, um mein ernsthaftes Bemühen, meine tief empfundene Reue und meinen unendlichen Dank für die verzeihende Milde des Vaters unter Beweis zu stellen. Vergebung ist doch kein Selbstläufer, kein Automatismus. Auf den Zustand meiner Seele kommt es vornehmlich an... Nur und nur so sind überhaupt die kirchlichen Epitemien zu verstehen – also disziplinarische Maßnahmen, die den reuigen Sünder wieder Schritt für Schritt in die Gemeinschaft der Kirche zurückführen sollen. So lautet auch das russische Wort für Strafe – наказание, das ja eher „Belehrung“ bedeutet. 

Wenn Sie mal die Ikone unseres Herrn (die vom Berg Sinai) hinter dem Altar unserer Kapelle in Lankwitz betrachten, werden Sie von selbst, ganz ohne Worte verstehen, dass Güte und Strenge untrennbar miteinander verbunden sind...

 

Wenn ich Gründungsinhaber eines großen Konzerns wäre und meinen Junior-Partner, der mir im Laufe der Jahre wie ein Sohn geworden ist, zu meinem Erben und Nachfolger eingesetzt habe, - dann aber erfahre, dass dieser eine große Summe Geld veruntreut hat, kann ich diese Sache doch nicht als Lappalie abtun und in einem fünfminütigen Gespräch die Sache aus der Welt schaffen! - Ich habe ihn doch jahrelang aufgebaut, gefördert, protegiert, damit er in meine Fußstapfen treten kann – und er zweigt Geld aus der Betriebskasse für seinen neuen Sportwagen ab! Kann ich dann einfach auf den „Reset-Button“ drücken und die Sache unter den Teppich kehren?! - Natürlich kann ich das nicht, auch wenn ich diesen jungen Mann nach wie vor für den am besten geeigneten Kandidaten halte und nur ihn dereinst nach mir in meinem Chefsessel sitzen sehen will. Ich werde ihn also nicht der Justiz ausliefern, aber ihn als stellvertretenden Buchhalter in unsere Zweigstelle nach Singapur oder Bogota versetzen, werde dem dortigen Filialleiter sagen, er solle ein Auge auf diesen jungen Mann haben, werde mich jede Woche nach dessen Werdegang erkundigen etc. Und wenn dieser nun gereifte Mann eines Tages vor meiner Tür in der Chefetage der Konzernzentrale steht und reumütig um Verzeihung bittet, aber keinerlei Ansprüche auf die vormals in Aussicht gestellte Stellung erhebt, werde ich ihm auf den Ledersessel hinter meinem Schreibtisch weisen und sagen: „Hier ist dein Platz!“ Und natürlich wird auch eine Flasche Champagner zur Feier des Tages geköpft. Sollte er aber von sich aus Ansprüche anmelden, würde ich ihn schweren Herzens ins zweite Glied der Firmenhierarchie versetzen. Auch das wäre noch gänzlich unverdiente Milde ihm gegenüber, aber eben nur „zweiter Klasse“.

 

Sehen Sie also worauf es ankommt? - Nicht auf Gottes Güte – denn die bleibt unverändert bestehen -, sondern auf unsere Reue und Bußbereitschaft. Auch im weltlichen Bereich ist die innere Einstellung letztlich das Entscheidende, nicht  das Parteibuch. Nur durch dauerhaft bußfertige und demütige Haltung unseres Herzens werden wir zu orthodoxen Christen, die, wenn Gott will, einen „Freispruch erster Klasse“ erwarten dürfen.

 

Wissen Sie, wie ein Starez auf die Frage antwortete, was – in zwei Worten ausgedrückt – einen orthodoxen Christen ausmache? - Er sagte: „Immerwährende Buße“. So einfach und so schwer ist das, nachdem man erst einmal in sich gegangen ist (s. Lk. 15: 17). Aber Gott erwartet diese aufrichtige Umkehr von uns allen. Oder gibt es jemanden unter uns, welcher der verzeihenden Milde des Herrn nicht bedarf? Hand hoch! ... Keiner?! Gut, dann sind wir uns ja einig. Die Große Fastenzeit kann demnach kommen. 

Ihnen schon jetzt Gottes Segen und meinen Glückwunsch dazu! Möge diese Zeit für uns alle eine freudenvolle und gnadenreiche Zeit der Versöhnung mit Gott und den Mitmenschen sein.

Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch