Predigt zum Herrntag vom jüngsten Gericht (1 Kor. 8: 8 - 9: 2; Mt. 25: 31-46) (10.03.2013)

Liebe Brüder und Schwestern,

eine Woche vor Beginn der Großen Fastenzeit erinnert uns die Kirche an das kommende Ende der Welt, an den letzten Tag der Welt- und Menschheitsgeschichte, den „Tag des Herrn“. Wenn wir von Erinnerung sprechen, bezieht sich das ja meistens auf zurückliegenden Ereignisse, nicht auf zukünftige. Es ist zwar einleuchtend, dass man auch bevorstehender Dinge eingedenk sein kann, trotzdem wird durch das liturgische Gedenken des jüngsten Tages die theandrische (gott-menschliche) Natur der Kirche zum Ausdruck gebracht. In einem der liturgischen Gebete spricht der Priester nach den Worten des Herrn beim Mystischen Abendmahl („Nehmet, esset...“ und „Trinket alle daraus...“) folgende Worte: „Indem wir dieses heilsbringenden Gebotes gedenken und all dessen, was um unseretwillen geschehen ist: des Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, der Auffahrt in den Himmel, des Sitzens zur Rechten, der zweiten und ruhmreichen Wiederkehr, bringen wir Dir das Deine von dem Deinen dar, gemäß allem und für alles“. Hier ist jeder Zweifel ausgeschlossen: wir gedenken des künftigen Ereignisses der Wiederkunft Christi. Denn Zeit und Raum sind Kategorien der Schöpfung, denen wir in dieser Welt noch unterworfen sind, der Schöpfer Selbst existiert hingegen außerhalb dieser Einschränkungen: „Tausend Jahre sind für Dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht“ (Ps. 89: 5; s. 2 Petr. 3: 8) und: „Wohin könnte ich fliehen vor Deinem Geist, wohin vor Deinem Angesicht flüchten? Steige ich hinauf in den Himmel, so bist Du dort; bette ich mich in der Unterwelt, bist Du zugegen. Nehme ich die Flügel des Morgenrots und lasse mich nieder im äußersten Meer, auch dort wird Deine Hand mich ergreifen und Deine Rechte mich fassen“ (Ps. 138: 9-11). Und so gesehen haben heilsgeschichtliche Ereignisse immer eine doppelte Dimension. So ist z.B. „heute die Vorandeutung des Wohlwollens Gottes“ bein Tempelgang der dreijährigen Jungfrau Maria (Troparion zur Einführung der Gottesgebärerin in den Tempel), ist „heute der Beginn unserer Rettung“ bei der Erscheinung des Erzengels in Nazareth (Troparion zum Verkündigungsfest), „gebiert die Jungfrau heute den Überseienden“ (Kontakion zur Geburt Christi). Auch wir beten ja vor der Heiligen Kommunion: „Als Teilnehmer an Deinem Mystischen Abendmahl nimm mich heute auf, o Sohn Gottes“ - des Abendmahls, das historisch vor zweitausend Jahren stattgefunden hat. Der Kreuztod Christi, Sein Abstieg in die Hölle, Seine Auferstehung, Seine Himmelfahrt, das Herabsenden des Heiligen Geistes sind nicht bloß historisch denkwürdige Ereignisse; durch sie sind wir mit Jesus Christus verbunden, Der „derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr. 13: 8) ist. Nur so konnte der mitgekreuzigte Räuber schon ins Paradies eintreten (s. Lk. 23: 43), obwohl das Reich Gottes noch nicht (in seiner ganzen Fülle) gekommen und Christus an jenem Tage ja noch nicht auferstanden war; nur so ist bereits aus Sicht des Apostels Johannes „die letzte Stunde“ (1 Joh. 2: 18) gekommen. Und so lebten die Heiligen zu allen Zeiten, als ob der heutige Tag schon der letzte sei. In Klöstern wird am Samstag während des Mesonytikons der Wiederkehr Christi gedacht, und überhaupt ist die Eschatologie, also die Erwartung des Ende dieser Welt und des Beginns des kommenden Äons das „Kerngeschäft“ der Mönche. Aber auch wir, „normale“ Christen sollten uns diese Denkweise zueigen machen.
Wir werden dereinst vor dem furchtbaren Richterstuhl Christi stehen. Für Christus Gott, Der über der Zeit steht, ist heute schon morgen. Für ihn stehen wir gleichsam heute schon vor Gericht. Auch in den Psalmen Davids wird dieses Ereignis teils wie ein schon stattgefundes, teils wie ein noch stattzufindenendes geschildert:

„Du hast zum Gericht gerufen.
Der Herr richtet die Völker.
Um Dich stehe die Schar der Völker im Kreis;
über ihnen throne Du in der Höhe!
(…)
Die Bosheit der Frevler finde ein Ende,
doch gib dem Gerechten Bestand,
gerechter Gott, Der Du auf Herz und Nieren prüfst“ (Ps. 7: 7-8, 10).

Deshalb beteten wir gestern für unsere Verstorbenen Vorfahren und Verwandten, deshalb müssen wir heute bereit sein, Rechenschaft über unser Leben abzulegen. Und nicht zuletzt deshalb ermahnt uns die Kirche immer wieder, jeden Gang zur Beichte, jeden Empfang der Heiligen Gaben, ja jeden einzelnen Tag so zu betrachten, als sei er der letzte in unserem Leben.

Natürlich sagt uns die Parabel (und das ist der Bericht vom Weltgericht schließlich) aus der heutigen Evangeliumslesung, dass wir durch tatkräftige Nächstenliebe das Himmelreich erlangen können: „Amen, Ich sage euch: Was ihr für einen Meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan“ (Mt. 25: 40). Und im negativen Sinne: „Amen, Ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt Ihr auch Mir nicht getan“ (25: 45).

Das ist ein unzweideutiger Hinweis darauf, dass der Richter uns alle „auf Herz und Nieren“ prüfen wird. Ihm entgeht nichts. Alle unsere Gedanken, Gefühle, alle im Verborgenen begangenen Taten, jedes von uns jemals gesprochene Wort wird offenbar werden, denn vor dem Angesicht Christi und vor den Augen der ganzen Welt werden wir vollkommen entblösst sein.

Die heutige Lesung deutet demnach an, dass der Herr vor allem das im Inneren Verborgene prüfen wird. Obgleich ich – das gleich vorweg – sehr wohl daran glaube, dass die Kirche Christi „Sein Leib“ ist, „von Ihm erfüllt, der das All ganz und gar beherrscht“ (Eph. 1: 23), und dass wir in ihr „mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt“ werden (Eph. 3: 19), „denn in Ihm allein wohnt wirklich die ganze Fülle Gottes“ (Kol. 2: 9), warnt uns der Text davor, uns allein auf unsere Rechtgläubigkeit zu berufen. „So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat“ (Jak. 2: 17). So war der Pharisäer rechtgläubig, denn er erfüllte alle äußeren Vorschriften des Gesetzes, aber der Zöllner ging gerechtfertigt zu sich nach Hause (s. Lk. 18: 9-14); der Priester und der Levit, beide unterwegs zwischen Jerusalem und Jericho, waren rechtgläubige Juden, doch sie halfen dem halbtoten Mann nicht, den die Räuber überfallen hatten, wohingegen der samaritische Ketzer das einzig wichtige Gebot zur Erlangung des ewigen Lebens, das Gebot der Nächstenliebe nämlich, erfüllte (s. Mt. 22: 35-40; Mk. 12: 28-31; Lk. 10: 25-37); Judas war einer der zwölf Apostel, vom Herrn Selbst auserwählt (s. Mt. 10: 1-4; Mk. 3: 13-19; Lk. 6: 12-16), der aber letztendlich dem Verderben anheimfiel, während der gesetzlose Räuber, (scheinbar) von niemandem auserwählt, mit seinem letzten Atemzug gerettet wurde und als erster das Paradies erlangte (s. Lk. 23: 43).

Mir fällt hierbei eine Begebenheit aus der Zeit kurz nach dem Fall des „eisernen Vorhangs“ ein. Evangelische Pastoren besuchten damals orthodoxe Gemeinden in der ehemaligen Sowjetunion, unterstützten nach Kräften und von ganzem Herzen den (Wieder-)Aufbau von Kirchen, Klöstern und kirchlichen Wohltätigkeitseinrichtungen. Nach einem Gottesdienst, zu dem die Gäste aus Deutschland eingeladen waren, kommt eine Frau aus der dortigen Gemeinde zu einem der Pastoren und sagt: „Trotzdem haben wir den richtigen Glauben!“ … Dieses „Trotzdem“ scheint unterbewusst, zwischen den Zeilen, die Furcht vor dem ausdrücken zu wollen, was der Apostel Jakobus folgendermaßen formuliert, und was wie eine Anklage gegen die aussieht, denen der Schein wichtiger als das Sein ist: „Du hast Glauben, und ich kann Werke vorweisen: zeig mir deinen Glauben ohne die Werke, und ich zeige dir meinen Glauben auf Grund der Werke“ (Jak. 2: 18). Denn schließlich wird Gott sogar „die Heiden, die das Gesetz nicht haben“, die aber „von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist“ (Röm. 2: 14), „für gerecht erklären“ – nicht aber die, „die das Gesetz hören“ (s. 2: 13), es aber nicht befolgen.

Der orthodoxe Bischof in Indien Pavlos Mar Gregorias formulierte einmal das Kriterium, an dem man einen echten Heiligen erkennt: Kompromisslose Bereitschaft, für seinen Nächsten zu sterben (s. Joh. 15: 13). Er führte das anhand der Person Mahatma Gandhis vor, der heute zu den Moslems geht und sagt: „Hallo, ich bin zwar Hindu, will aber euer Bruder sein. Wenn ihr nicht einverstanden seid, könnt ihr mich umbringen“. Morgen geht er dann zu den Hindus und sagt: „Hallo, ich bin zwar Hindu, aber die Moslems sind meine Brüder. Wenn ihr nicht einverstanden seid, könnt ihr mich jetzt umbringen“...

Das gibt zu Denken, vor allem im Hinblick auf den letzten Tag. Von den Verurteilten zur Linken gab es wohl viele, „die das Gesetz hörten“; und von den Gerechtfertigten zur Rechten standen offensichtlich sehr viele, die „von Natur aus das taten, was im Gesetz gefordert ist“. Und auf beiden Seiten schien die Überraschung darüber groß zu sein, auf welcher Seite sie sich jeweils wiedergefunden haben. Diese Erkenntnis soll für uns lehrreich sein, vor allem jetzt, da wir in den Startlöchern zur Großen Fastenzeit sitzen. Dieses vierzigtägige spirituelle Manöver soll uns allen helfen, einen Geisteszustand zu erlangen, der uns selbst auf der linken Seite sieht, damit wir durch die Gnade Gottes womöglich am Ende doch auf der rechten Seite sein mögen. Deshalb bedarf es der eingehenden, tiefgründigen und ungeschönten Erkenntnis der eigenen Verfehlungen. Auuuf die Plätze, feeertig...

Die Parabel vom Weltgericht lehrt uns aber noch eines, was nicht unbeachtet bleiben soll: Was wir einem unserer geringsten Brüder und Schwestern getan haben, haben wir Christus getan. Und umgekehrt, was wir unseren geringsten Brüdern und Schwestern nicht getan haben, haben wir auch Christus nicht getan. Das bedeutet doch, dass alle unsere Werke, unser Handeln, unsere Worte, Gedanken und Emotionen auf Christus bezogen sein müssen! Diese Christus-Bezogenheit muss all unser Tun bestimmen. Wie kann ich also meinen Nächsten verleumden, betrügen, ihn nach innen oder nach außen verurteilen, mißachten, benachteiligen, abweisen, kränken oder sonst irgendwie schlecht behandeln, wenn er doch in sich das Abbild Gottes trägt?! Und wenn er gläubig ist, dann ist er durch die Taufe eins mit Christus geworden und Christus ist eins mit ihm. Dann ist er/sie Christus! ...
Die heiligen Johannes von Kronstadt, Großfürstin Elisabeth, Philaret der Barmherzige, Basilius der Große, - um nur einige wenige Beispiele zu nennen, - beherzigten dieses Gebot in höchstem menschlichen Maße. In den heruntergekommendsten Gestalten der Metropolen St. Petersburg bzw. Moskau vor hundert Jahren, genauso wie in der Provinz Paphlagoniens oder Kappadokiens vor mehr als tausend Jahren sahen sie jedesmal das Abbild Gottes, den Bruder oder die Schwester, für den/die Christus mit gestorben ist (s. Röm. 5: 6-10). Es gibt diese „Heiligen“ zuhauf auch jenseits der sichtbaren Grenzen der orthodoxen Kirche: Franz von Assisi, Elisabeth von Thüringen, Maximilian Kolbe, Friedrich Bonhoeffer, Paul Schneider und, und, und. Auch sie hatten Christus vor Augen, als sie in das Antlitz ihrer Mitbrüder und -Schwestern schauten.
Wenn wir ihnen nacheifern, gilt auch für uns: „Nachdem wir jetzt durch Sein Blut gerecht gemacht sind, werden wir durch Ihn erst recht vor dem Gericht Gottes gerettet werden“ (Röm. 5: 9).
Amen.

Jahr:
2013
Orignalsprache:
Deutsch