Predigt zum 12. Herrentag nach Pfingsten (1 Kor. 15:1-11; Mt. 19:16-26) (04.09.2022)

Liebe Brüder und Schwestern,

 

in der Wiedergabe des uns zur Genüge bekannten Gesprächs mit dem reichen jungen Mann (s. Mt. 19:22), der in der Parallelstelle bei Lukas als „einer von den führenden Männern“ (Lk. 18:18) bezeichnet wird, will der Herr uns allen veranschaulichen, was erstrangig und was zweitrangig für unser Seelenheil ist. Sicherlich werden sehr viele von uns sich selbst im heute zitierten Fragesteller erkennen, denn auch wir suchen nach Wegen, Gutes zu tun, um das ewige Leben zu gewinnen (vgl. Mt. 19:16); auch wir haben eine gewisse Vorstellung davon, dass die Einhaltung der Gebote Gottes hierbei zielführend ist (vgl. 19:17-19); auch wir spüren instinktiv, dass uns dabei aber trotzdem etwas fehlt und es nicht ausreichend ist, lediglich strikt nach Vorschrift zu leben (vgl. 19:20).

Deshalb ist es für uns immer notwendig, den Geist, und nicht bloß den Buchstaben der Verkündigung zu erfassen (s. Röm. 2:29; 7:6; 2 Kor. 3:6). Der besagte junge Mann hatte ohne jeden Zweifel das aufrichtige Bestreben nach den Segnungen Gottes, wofür er nach Markus vom Herrn auch geliebt wurde (s. Mk. 10:21), doch in der Sache befand er sich auf dem Irrweg, so wie die Schriftgelehrten und Pharisäer der damaligen Zeit, aber auch wie viele Gläubige unserer Zeit, unter denen es leider auch etliche „Pharisäer“ gibt. Wie wir im Verlauf des gesamten Evangeliums sehen, ist der Herr barmherzig gegenüber den reuigen Sündern, unerbittlich jedoch gegenüber den selbstgerechten Vertretern der geistlichen Führungsriege. Weiter höher im Text des Matthäus-Evangeliums lesen wir darüber, wie der Herr die Schriftgelehrten und Pharisäer geißelt, sie als Heuchler bezeichnet, u.a. dafür, dass sie den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel geben, doch „das Wichtigste im Gesetz“ außer Acht lassen, nämlich „Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue“ (Mt. 23:23). Die Pharisäer nahmen es dermaßen genau mit dem Zehnten, dass sie penibel sogar die mickrigen Bündel von den erwähnten Gewürzen aus ihren Gärten bei der Tempelsteuer deklarierten, dabei aber völlig übersahen, was prioritär ist vor Gott und den Menschen. Daher auch der überaus treffende bildhafte Vergleich des Herrn: „Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele“ (23:24) – auf nebensächliche Kleinigkeiten richteten sie ihr ganzes Augenmerk, doch das, worauf es Gott wirklich ankam, ignorierten sie vollkommen.

Der Mann aus unserer heutigen Episode war von seinem guten Willen her auf einem guten Weg, doch beging er ebenso den Fehler, das Heil in Äußerlichkeiten zu suchen. Und wir neigen ebenfalls oft dazu. Dabei verwirft der Herr die formale Frömmigkeit keineswegs, wenn Er dem soeben Gesagten hinzufügt: „Man muss das Eine tun, ohne das Andere zu lassen“ (23:23c). Man kann ja nicht Gott im Herzen lieben ohne irgendwelche Formen der Frömmigkeit; umgekehrt kann man aber sehr wohl nach außen hin fromm wirken, dabei aber mit dem Herzen weit weg von Gott sein (s. Mt. 15:8; vgl. Jes. 29:13). Und dieser Gefahr sind regelmäßige Gottesdienstbesucher ausgesetzt. Auch der junge Mann, der den Herrn ja gewiss nicht – wie andere es taten – auf die Probe stellen wollte (s. Mk. 10:17; vgl. Mt. 22:35; Lk. 10:25), beging den Irrtum, Äußerlichem die Bedeutung beizumessen, die ihm nicht zustand. 

Wenn wir also aus gutem Grund davon ausgehen, dass der junge Mann die Voraussetzungen für die wahre Nachfolge des Herrn mitbrachte, ist es nur folgerichtig, dass der Herr ihm zu seinem eigenen Nutzen anbietet, alle Besitztümer aufzugeben und Ihm nachzufolgen (und dafür Unverständnis, Verachtung, Hohn und Spott bis hin zu Verfolgung, Misshandlung und Tötung in Kauf zu nehmen). Darin äußert sich die Liebe des Herrn zu uns, die freilich niemals aufgezwungen werden kann. Der materielle Reichtum erweist sich hier als Hinderungsgrund. Der Mann zeigt hiermit, dass er zwar das Eine (das Himmlische) will, das Andere (das Irdische) aber nicht lassen kann. Er hat sich somit selbst aus der Schar der Jünger des Herrn ausgeschlossen. Auch Kain und Judas waren Versuchungen ausgesetzt, die sie aber hätten meistern (s. Gen. 4:6-7; Joh. 12:6) und somit ebenfalls die Nachfolge des Herrn antreten können.

Überhaupt verhält es sich mit den Prüfungen Gottes so, dass dem Auserwählten Gottes sehr viel mehr abverlangt wird als dem von der Gnade Abgefallenen. Der frevelhafte König Ahab von Israel, zum Beispiel, zeigte Reue, als er von dem Urteil erfuhr, das Gott durch den Propheten Elias gegen ihn gefällt hatte, und schon nahm Gott Abstand von Seinem Vorhaben, Unheil über ihn zu bringen (s. 3/1 Kön. 21:17-29), auch wenn sich Ahabs Umkehr danach durch konkrete Taten nicht wirklich belegen ließ. Demgegenüber wurden Moses und Aaron allein dafür bestraft, dass sie in der Wüste Zin Gott nicht geglaubt hatten, dass Er Wasser aus dem Felsen fließen lassen kann sowie dafür, dass sie Ihn nicht als Heiligen vor den Augen der meuternden Israeliten bezeugen wollten. Für diese menschliche Schwäche durften sie nicht in das Gelobte Land einziehen (s. Num. 20:1-12). Zum Wohle der Sünder misst Gott sogar (ausnahmsweise) mit zweierlei Maß, erweist ihnen Seine Erbarmungen, während der Gerechte die Strenge Gottes zu spüren bekommt. So scheint auch die Kirche den nur nominell Gläubigen eher ihre Verfehlungen nachzusehen als ihren treuen Kindern. In der Göttlichen Liturgie betet der Priester zudem darum, Gott möge ihm (dem Liturgen) seine Gesetzlosigkeit, den Laien hingegen ihre unwissentlichen Verfehlungen vergeben. „Doppelte Standards“, aber im umgekehrten Sinne! Und wie wird mir Elendem dabei?! Ich habe nur diese Hoffnung: dass der Herr mir meine unzähligen Versäumnisse in Sachen asketischer Anforderungen an mein Amt gnädigst nachsieht und mich dafür in der Treue zu Ihm und der Liebe zu meinem Nächsten stärken möge (s. 1 Petr. 4:8). Amen.          

Jahr:
2023
Orignalsprache:
Deutsch