Predigt zum Hochfest der Geburt der Allerheiligsten Gottesgebärerin (Phil. 2:5-11; Lk. 10:38-42; 11:27-28) (21.09.2022)

Liebe Brüder und Schwestern,

 

vor rund drei Wochen feierten wir das Fest des Entschlafens der Gottesgebärerin als letztes Hochfest des alten Kirchenjahres, nun feiern wir mit dem Geburtsfest der Gottesgebärerin das erste Hochfest des neuen Kirchenjahres. Der letzte und der erste Monat des Kirchenjahres sind die einzigen Monate, die zwei konstante Hochfeste enthalten: im August die Verklärung Christi und das Entschlafen der Gottesgebärerin, im September die Geburt der Theotokos und die Erhöhung des Kostbaren und Lebenspendenden Kreuzes (sonst kann es noch im Mai, abhängig vom Ostertermin, sowohl nach Julianischen als auch nach Gregorianischem Kalender zwei bewegliche Hochfeste geben). Allen diesen zwölf Festen ist eines gemeinsam: die unbeschreibliche Freude, welche wir orthodoxe Christen an diesen Tagen bei entsprechender Vorbereitung und Teilnahme empfinden. Im vorliegenden Fall ist diese Freude sogar hymnographisch verbürgt: „Deine Geburt, Gottesgebärerin Jungfrau, verkündete Freude dem ganzen Erdkreis…“ (Troparion).  Das Kirchenjahr besteht ja aus 365/6 „Mosaiksteinchen“ – wovon Ostern der mit weitem Abstand größte Mosaikstein ist, gefolgt von den zwölf in Größe und Beschaffenheit voneinander unterschiedlichen Hochfesten, den fünf sog. Großen Festen (Beschneidung des Herrn, Schutzmantel der Theotokos, Geburt bzw. Enthauptung Johannes des Täufers sowie dem gemeinsamen Festtag der Apostelfürsten Petrus und Paulus) und den ebenfalls an Bedeutung unterschiedlichen Gedenktagen der Heiligen. Wenn nur ein Steinchen im Mosaik fehlt, ist das gesamte Bild unvollständig. Je größer die Lücke, desto unkenntlicher das Gesamtkunstwerk. So gesehen bleibt die anfangs erwähnte unbeschreibliche geistliche Freude praktisch nur Klosterbewohnern, die den kompletten liturgischen Jahreszyklus mitmachen können, vorbehalten. Ein Tatbestand, der Neid ausnahmsweise nicht als Sünde, sondern als tugendhaft in unseren Augen erscheinen lässt – nachzuempfinden bei jeder Pilgerfahrt auf den Heiligen Berg Athos oder bei der Einkehr in jedes für uns Laien zugängliche Kloster (wie gerne erinnere ich mich an unsere Pilgerfahrt während der Großen Fastenzeit 2008 in das Kloster des hl. Johannes des Täufers nach Essex!). Aber ist es überhaupt angebracht, in einer Zeit wie dieser Freude hervorzuheben? Ist das nicht so ähnlich wie Puschkins „Festmahl zur Zeit der Pest“?..

Wie ich die Dinge sehe, ist es durchaus angebracht, sich zu Zeiten allgemeinen Leids und massenhaften Sterbens eitler Vergnügungen zu enthalten. Wie wir von älteren Zeitgenossen wissen, gab es in Deutschland am Karfreitag zur Todesstunde des Herrn Funkstille auf allen Radiokanälen (15.00 bis 15:15 Uhr), und bis heute finden an diesem Tag z.B. keine Fußballspiele statt, darf es keine öffentlichen Tanzveranstaltungen im Freien geben, wogegen Vertreter der liberalen Linken sei Jahrzehnten Sturm laufen (z.B. durch demonstratives Tanzen bei lauter Musik auf öffentlichen Plätzen). Natürlich will niemand einem Nichtgläubigen oder Andersgläubigen sein Wochenendvergnügen verderben. Für mich ist das aber ein Zeichen des Respekts, den ich als Minderheitenvertreter z.B. in einem mehrheitlich nicht-christlichen Land der Mehrheitsbevölkerung gegenüber selbstverständlich ebenso erweisen würde. Allerdings kann in Deutschland in diesem Zusammenhang lange nicht mehr von einer überwiegend christlichen Gesellschaft gesprochen werden – und das nicht nur wegen des hohen Bevölkerungsanteils von Migranten aus muslimischen oder anderen nicht-christlichen Ländern. Doch der Respekt gebietet es, auch Rücksicht auf Minderheiten (zu der wir Christen im Abendland zunehmend werden) zu nehmen. Wenn ich im Studentenwohnheim meinen Geburtstag mit Freunden begehen will, dann aber erfahre, dass gerade die Mutter meines Zimmernachbarn gestorben ist, werden ich und alle zur Feier Geladenen dessen Trauer respektieren und entweder ganz auf die Party verzichten oder aber einen anderen Ort dafür aufsuchen. - So viel zu nichtigen Vergnügungen.

Demgegenüber ist es nicht nur legitim, sondern im geistlichen Sinne geradezu ein Notbedürfnis, die wahre, überirdische Freude zu empfinden. In geistlicher Not befinden wir uns ja immer, auch wenn es uns im irdischen Sinne gut geht. Und Anlass zu dieser Freude bietet der erste große Mosaikstein im Kirchenjahr mit der Geburt der Allerheiligsten Theotokos, aus der die „Sonne der Gerechtigkeit, Christus, unser Gott, erstrahlte, den Fluch tilgte und uns den Segen spendete sowie den Tod vernichtete und uns das ewige Leben schenkte“ (Troparion). Wenn wir uns diese und andere Worte aus der Heiligen Schrift oder aus den Gottesdiensten verinnerlichen, d.h. sie nicht bloß als festen Bestandteil einer rein folkloristischen Erinnerungskultur betrachten, sondern in ihnen den Sinn des Lebens – das Leben selbst – sehen, dann werden auch wir diese konstante Freude trotz heftiger Betrübnisse im Alltag in unseren Herzen tragen, und nicht nur das – wir werden diese Freude und Zuversicht auf andere ausstrahlen können (s. Mt. 5:4; Joh. 16:20; Offb. 21:4; Ps. 126:5-7; Jes. 25:8; Bar. 4:23). Die Befolgung „ritueller“ Vorschriften kann bei uns Weltkindern nicht den Großteil unserer Zeit in Anspruch nehmen (s. Ex. 20:8-11), aber die Hinwendung zu Gott muss selbst für außerordentlich von Sorgen und Nöten Beanspruchte oder für extrem in ihrer Tatfähigkeit Eingeschränkte das Herzstück ihres geistigen Schaffens sein, das geistliche Fundament, auf dem sich ihr gesamtes irdisches Dasein aufbauen lassen kann. Und dann werden wir, vom Geist Gottes geleitet (s. Röm. 8:14), verstehen, warum heilsgeschichtliche Ereignisse, an denen wir in der Kirche teilhaben dürfen, die Quelle für epochenübergreifende globale Freude sind – auch und besonders in Zeiten wie diesen. Amen.

Jahr:
2023
Orignalsprache:
Deutsch