Predigt zum 20. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 1:11-19; Lk. 16:19-31) (07.11.2021)

Liebe Brüder und Schwestern, das Gleichnis des Herrn vom reichen Mann und von Lazarus, einzig überliefert vom Evangelisten Lukas, ist einerseits schlicht, andererseits jedoch von solch einem unergründlichen Tiefgang, dass sich darin in scheinbar unbedeutenden Details ganze Abgründe auftun. So wird der Arme beim Namen genannt, der Reiche aber nicht. Eine unbedeutende Kleinigkeit? Aber wer im Gesamtkontext des Evangeliums bzw. des Neuen Testaments von Gott mit dem Namen genannt wird, der ist für das ewige Leben vorgemerkt (s. Lk. 10:20; Joh. 10:3; Offb. 2:17), weil sein Name im Buch des Lebens eingetragen ist (s. Offb. 13:8; 17:8). Der Reiche kannte den Bettler ebenfalls beim Namen. Vielleicht waren sie einmal Partner gewesen, hatten einen gemeinsamen Lebensweg. Möglich, dass der uns namentlich nicht bekannte Partner dem Lazarus etwas empfohlen, angeboten bzw. von irgendeiner Handlung abgeraten hatte, dieser jedoch darauf nicht eingegangen war? Nun lag er vor den Toren seines ehemaligen Compagnons und darbte dahin. Dieser sah sich völlig im Recht: „Ich hatte es dir doch gesagt, aber du wolltest nicht auf mich hören. Selber Schuld!“. Denkbar wäre es. Entsprechend sieht sich der Hartherzige im Recht und betrachtet die entstandene Situation als logische Konsequenz des verantwortlichen Handelns eines jeden von beiden. Ich reich – du arm. Aber was ist das für eine Gerechtigkeit, die nicht einmal zu einem Mitgefühl fähig ist, wie es die Hunde an den Tag legen (s. Lk. 16:21)?! So rechtfertigen die auf der Sonnenseite des Lebens befindlichen ihre Apathie gegenüber den Minderbemittelten und Notleidenden: „Faule Säcke, Nichtstuer, allesamt zu blöd, um etwas auf die Beine zu stellen“ etc. Mag ja alles sein, aber gebt ihr ihnen die Chance, aus der Notlage herauszukommen? Dazu bedarf es keiner Almosen, sondern der sprichwörtlichen Hilfe zur Selbsthilfe. Doch gerade das kennt unsere Welt nicht, weder im Großen, noch im Kleinen. Stattdessen scheinen die Mächtigen dieser Welt Gefallen an extremen Abhängigkeitsverhältnissen zu haben (s. Lk. 22:25). Die Exegeten sind sich jedoch ausnahmslos einig darüber, dass Reichtum keine Sünde und Armut keine Tugend ist. Es gibt ja zuhauf Menschen, die beides im Leben hatten – in wechselnder Reihenfolge. Wichtig ist nicht, ob man viel besitzt oder nicht, sondern das, was man daraus macht. Der Reiche hätte durch Barmherzigkeit gegenüber dem Armen der Verurteilung entgehen und der Arme hätte durch Verbitterung gegenüber dem Reichen genauso gut auch seinen Platz in Abrahams Schoß verlieren können. Was entnehmen wir Abrahams Worten an den unbarmherzigen Reichen? - „Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden“ (Lk. 16:25). Mit dem „Guten“ kann also auch der irdische Belohnungsvorschuss der Selbstgerechtigkeit gemeint sein (s. Mt. 6:2); mit dem „Schlechten“ – das sanftmütige Erdulden von Pein und Ungerechtigkeit (s. Mk. 13:13; Lk. 21:19). Wie sich die Juden auf ihre Abstammung von Abraham beriefen (s. Mt. 3:9; Lk. 3:8; Joh. 8:39), so denken manche heute, sie hätten allein durch die Taufe bereits die Seligkeit erlangt. Schon im Alten Bund ging diese Rechnung nicht auf (s. Hos. 13:14; Röm. 2:28), sie tut es auch jetzt nicht (s. Mt. 7:21). Der reiche Mann war von der Genealogie her „Kind Abrahams“ (s.o. Lk. 16:25), nicht aber dem Glauben nach (s. Röm. 4:13). Und was hat es ihm am Ende genutzt?!.. Hier findet sich zudem übrigens noch ein Hinweis auf die Fürsprache der Verstorbenen für die Lebenden: Sie haben die Möglichkeit, im Gebet für uns auf Erden einzutreten (s. Lk. 16:27-28). Und wäre der reiche Mann fromm gewesen, hätte sein Flehen womöglich sogar erhört werden können (s. Jak. 5:16). Beide – der Reiche und Lazarus – lebten zu der Zeit, als das Paradies noch nicht wieder durch den Überwinder des Todes geöffnet worden war. Die Seelen aller Verstorbenen ohne Ausnahme kamen in den Sheol (s. Ps. 6:6; 15:10; 48:16; 88:49; 114:3). Das heutige Gleichnis lehrt uns, dass es da aber gewaltige Unterschiede gab: Der Eine wurde von den Engeln in Abrahams Schoß getragen, der Andere litt qualvolle Schmerzen im Feuer (s. Lk. 16:22-24). Überdies bestätigt uns Abraham, dass zwischen den Gerechten und den Sündern „ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund“ (16:25) ist, so dass man nicht von der einen zu der anderen Seite hinübergehen kann. Wie das? - Offensichtlich erkennen wir hier einen Hinweis darauf, dass es schon dort, ähnlich wie in der gegenwärtigen Zeit der Erwartung der Auferstehung, eine Zweiteilung gab, und zwar auch unter den Kindern Abrahams. Die Gerechten erduldeten zu Lebzeiten zumeist Böses, „doch sie alle, die aufgrund des Glaubens (von Gott) besonders anerkannt wurden, haben das Verheißene nicht erlangt, weil Gott erst für uns etwas Besseres vorgesehen hatte; denn sie sollten nicht ohne uns vollendet werden“ (Hebr. 11:39). Sie verweilten also zwar noch in der Finsternis, waren aber diejenigen, für welche die Verkündigung der Auferstehung durch Christus im Hades (s. 1 Petr. 3:19) die Erfüllung ihrer Erwartung war (s. Hebr. 11:6). Die Sünder hingegen, die Gott vergaßen, mussten genau wie die Heiden zur Unterwelt fahren (s. Ps. 9:18). Ihnen waren das Gesetz Mose und die Propheten gegeben worden (s. Lk. 16:29-31), die sie zwar kannten (unsere „getauften Heiden“ kennen heute das Evangelium nicht einmal oberflächlich), aber nicht befolgten, da sie mehr auf irdische Vorzüge vertrauten (s. Phil. 3:3). Somit ist das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus erneut eine ernste Warnung an uns alle, die uns von Gott gegebenen Möglichkeiten auch zum Wohl unserer Mitmenschen einzusetzen – vornehmlich dazu, dass wir alle gemeinsam die Seligkeit „in Abrahams Schoß“ erlangen. Amen.
Jahr:
2021
Orignalsprache:
Deutsch