Predigt zum 27. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 6:10-17; Lk. 13:10-17) (13.12.2020)

Liebe Brüder und Schwestern, wir lesen heute von der Heilung einer seit achtzehn Jahren gekrümmten, weil von einem Dämon geplagten Frau durch unseren Herrn Jesus Christus am Sabbat in einer Synagoge. Aber welche Reaktion darauf sehen wir? - Statt Gott für dieses große Zeichen zu verherrlichen, ergreift der Synagogenvorsteher stellvertretend für all die zahlreichen Gegner des Herr (s. Lk. 13:17) das Wort und rügt den Herrn, ohne Ihn persönlich anzusprechen: „Sechs Tage sind zum Arbeiten da. Kommt also an diesen Tagen und lasst euch heilen, nicht am Sabbat!“ (13:14). Und was erhält er bzw. die ihm Gleichgesinnten zur Antwort (auch er wird nicht persönlich angesprochen, denn der Herr adressiert hier Seine Widersacher im Plural): „Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Esel oder Ochsen von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan schon achtzehn Jahre gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit werden dürfen?“ (13:15-16). Für mich ergeben sich hier zwei Fragen: 1. Hat der Synagogenvorsteher nicht vielleicht doch recht mit seiner Behauptung? Denn nach dem Buchstaben des Gesetzes übertritt unser Herr offensichtlich ein ums andere Mal das vierte Gebot (s. Ex. 20:8-11)... 2. Und warum heilt der Herr so oft am Sabbat und noch dazu in Synagogen? Doch nicht etwa, um die Schriftgelehrten zu provozieren? Er hätte doch ausreichend Zeit, dies alles an den Werktagen zu tun. Den Kranken wäre es doch bestimmt auch egal, an welchem Wochentag sie geheilt werden... Um darauf eine fundierte Antwort geben zu können, sollten wir miteinander darüber reflektieren, welchen tieferen Sinn das Gebot von der Sabbatruhe enthält: „Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte Er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt“ (Ex. 20:11). — Gott erschuf die sichtbare Welt in sechs Tagen, hörte aber danach nicht auf, Sich um diese Welt zu sorgen. Er schenkte uns das Leben, Er will uns auch weiterhin am Leben halten und uns noch dazu das ewige Leben schenken. Nicht Gott benötigt die Sabbatruhe, sondern wir – Seine Schöpfung. Geist und Körper brauchen Erholung, um wieder neue Kräfte sammeln zu können. Selbst die Erde, die uns ernährt, und der Weinberg sollten im siebten Jahr, dem Sabbatjahr, ruhen, um sich einerseits zu regenerieren, aber auch andererseits, um Bedürftige zu ernähren (s. Lev. 25:2-7). All das sollte letztlich dem Menschen zugute kommen. Und nun zur eingangs gestellten Frage, warum der Herr derart häufig in Synagogen heilte. Die Menschen versammelten sich ja in der Regel am Sabbat in den Synagogen, die aber keine Tempel (im Sinne von Gebets- bzw. Kultstätten) waren, sondern Schulen. Hier wurde das Wort Gottes gelehrt. Das einzige Heiligtum der frommen Juden stand zur Zeit Jesu Christi bekanntlich in Jerusalem. Wenn der Herr also, wie hier, in einer Synagoge auftrat, dann um zu lehren (s. Mt. 4:23). Und Er lehrte durch Wort und Tat, ist Er doch der eine Lehrmeister (s. Mt. 23:8). Aber Seine Gegner verstanden es nicht. Was ist aber das Besondere am Sabbat? – Bis einschließlich des sechsten Schöpfungstages (an dem Gott den Menschen erschuf) wirkte Gott allein; doch am siebten Tag machte Er den Menschen zu Seinem „Mitschöpfer“, der die Erde vor und nach dem Sündenfall – unter jeweils gegensätzlichen Vorzeichen – bebauen sollte (s. Gen. 2:5,15, vgl. 3:17-19,23). Gott „ruhte“ also am siebten Tag (s. Gen. 2:2; Ex. 20:11), damit der Mensch tätig werden konnte! Doch alles blieb in Gottes Plan nach wie vor zum Heil des Menschen ausgerichtet (s. Ps. 35:8; 54:23; vgl. 1 Petr. 5:7). Selbst Tiere und Pflanzen sind im göttlichen Heilsplan eingeschlossen (s. Gen. 8:1; Ps. 35:7; Mt. 6:26,28-29; Lk. 12:24,27). Doch über allem steht die Fürsorge um das „Abbild Gottes“ (Gen. 9:6). Aus diesem Blickwinkel ist die legalistische Haltung des Synagogenvorstehers und die seiner Gesinnungsgenossen geradezu menschenverachtend, zumal diese selbst die Beschneidung am achten Tag nach der Geburt eines Jungen (s. Gen. 17:12) – also auch am Sabbat – vornahmen, „damit das Gesetz des Mose nicht missachtet wird“ (Joh. 7:23). - Und Christus sollte es nicht gestattet sein, Leid zu lindern an diesem Tag?!... Deshalb weist der Gesetzesgeber und „Herr über den Sabbat“ (s. Mt. 12:8; Mk. 2:28; Lk. 6:5) Seine Widersacher darauf hin, dass a) es am Sabbat erlaubt ist, Gutes zu tun (s. Mt. 12:12), und b) der Sabbat für den Menschen da ist, nicht der Mensch für den Sabbat (s. Mk. 2:27). Da erstaunt es nicht, dass die überwiegende Mehrheit der Schriftgelehrten sich nicht mit der Gleichstellung des Gebotes der Nächstenliebe (Lev. 19:18) mit dem der Gottesliebe (Dtn. 6:5) anfreunden wollte (s. Mt. 22:37-40; Mk. 12:29-31). Natürlich gibt es heute auch bei uns einen übertriebenen Hang zur „Gesetzestreue“: alte Frauen wettern gegen junge Mädchen, die in Jeans und ohne Kopftuch in die Kirche kommen; Halbgebildete demonstrieren allzu gern ihre intellektuelle Überlegenheit gegenüber denen, die lediglich eine Viertelbildung genossen haben usw. Im Grunde zeugt solch eine schizophrene Verhaltensweise davon, dass sich in den Köpfen und Herzen der Menschen seit der Zeit unseres Synagogenvorstehers nichts geändert hat. Wenn einem regelmäßigen Kirchenbesucher nämlich die einzig richtige Motivation abgeht – die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen – lässt Gott es beizeiten zu, dass seine Verhaltensweise Anstoß erregt. Nicht Gott oder die Kirche ist schuld, sondern der Mensch ist allein verantwortlich. Gott legt den Finger auf die Wunde, um ihn zur Umkehr zu bewegen. Wer sich wegen des Fehlverhaltens anderer aber von der Kirche abwendet, der hat selbst noch nicht begriffen, worum es geht. Die einzig wahre „Gesetzestreue“ ist nämlich in den Worten zusammengefasst: „Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt“ (Röm. 13:9). Amen.
Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch