Predigt zum Abschluss der Großen Fastenzeit (10.04.2020)

„Nachdem wir die für die Seele heilsame vierzigtägige Zeit vollendet haben, bitten wir nun darum, auch die Woche Deiner Leiden sehen zu dürfen, o Menschenliebender, damit wir in ihr Deine Größe und Deine unaussprechliche Vorsehung um unseretwillen verherrlichen und also einmütig ausrufen: Herr, Ehre Dir!“  

(Aposticha zum Orthros am Freitag der 6. Woche der Großen Fastenzeit)

Liebe Brüder und Schwestern,

nun ist die Große Fastenzeit vorüber. Unser Blick richtet sich nach vorn – auf die beiden Festtage morgen und am Palmsonntag – sowie auf die Woche der Leiden des Herrn. Es ist aber auch Zeit, ein Fazit zu ziehen. Als geistliche Richtschnur wollen wir dazu das Gebet des heiligen Ephraim des Syrers nehmen, das uns diese vierzig Tage begleitet hat und das ja noch bis einschließlich Mittwoch gebetet wird, wenn alle großen Metanien (Verbeugungen bis zum Boden) aufhören und wir dann am Großen Freitag nur noch vor dem Epitaphios (Плащаница = Grabtuch Christi) niederfallen werden. 

Wollen wir das Gebet des heiligen Ephraim noch einmal vollständig anführen:

Herr und Gebieter meines Lebens, gib mir nicht den Geist der Trägheit (Müßiggang), des Kleinmuts (Verzweiflung), der Herrschsucht und der Schwatzhaftigkeit.  (große Metanie)

Verleihe hingegen mir, Deinem Knecht, den Geist der Besonnenheit (Keuschheit), der Demut, der Geduld und der Liebe.  (große Metanie)

Ja, mein Herr und König, lass mich meine Verfehlungen sehen und meinen Bruder nicht richten, denn Du bist gesegnet in alle Ewigkeit,  (große Metanie)   

Ziel war doch, im Glauben und in der Liebe zu wachsen und uns dadurch mit dem Himmlischen Vater zu versöhnen. Wenn wir nun das o.a. Gebet als Messlatte für unser geistliches Fortschreiten nehmen, sollten wir uns anhand der darin enthaltenen zehn Gebote fragen, ob wir die Zeit des Fastens genutzt haben.

Präfix: Gott ist unser Herr (gr. Kyrios, slaw. Господь) und Gebieter (gr. Despota, slaw. Владыка). Ersteres bezeichnet das Verhältnis eines Dieners zu seinem Herrn; Letzteres das eines Sklaven zu seinem Gebieter. Gott ist ohnehin der absolute Gebieter über unser Leben, aber wir wollen Ihn auch als unseren Herrn anerkennen, selbst wenn es keine zwingende Notwendigkeit dazu gäbe. 

  1. Trägheit (Müßiggang) – Haben wir die zurückliegende Zeit in Gebet und Fasten verbracht, also unsere Sünden beweint, oder haben wir uns ablenken lassen durch Vergnügungen, die Sorgen des Alltags oder durch das gierige Aufgreifen immer neuer Nachrichten und Prognosen im Hinblick auf das Geschehen in dieser Welt?
  2. Kleinmut (Verzweiflung) – Sind wir in der Zuversicht und im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit gewachsen oder hat sich Mutlosigkeit bei uns breitgemacht? Ich erinnere daran, dass Verzweiflung (slaw. уныние) eine Todsünde ist. Der Widersacher flüstert dem Betenden und Fastenden bzw. dem frommen Kirchgänger zu: „Lass es sein! Es hat doch keinen Sinn. Du bleibst derselbe Sünder, der du bist. Genieße das Leben jetzt und lass diesen Unsinn!“ In der Folgezeit wendet sich der zuvor beherzt Gläubige von der kirchlichen Gemeinschaft ab, geht eigene Wege; in Extremfällen führt dieser Zustand zu Bewusstseinsstörungen und Verzweiflungstaten bis hin zum Selbstmord.
  3. Herrschsucht – Haben wir Untergebenen, Schwächeren oder Menschen, die auf der sozialen Leiter niedriger stehen, den Respekt, den sie sehr wohl verdienen, versagt? Haben wir Gleichrangige oder uns Nahestehende durch unsere unbedachte und unverantwortliche Handlungsweise unter Druck gesetzt, indem wir ihnen ständig unseren Willen aufzwingen wollten? Wollten wir nicht einsehen, dass auf den Schultern von Menschen in hohen Stellungen eine immense Verantwortung lastet, um die sie kein normaler Mensch beneiden sollte? Und haben wir uns angemaßt, zu glauben, wir hätten an ihrer Stelle besser und klüger gehandelt? Hatten wir, die wir ja unserer eigenen (und ungleich geringeren) Verantwortung kaum gerecht werden, überhaupt das moralische Recht, diese Menschen zu kritisieren?
  4. Schwatzhaftigkeit – Wie viele unserer Worte (in Prozent geschätzt) galten dem Lobpreis Gottes, wie viele dem Trost und der Erbauung unserer Mitmenschen?!.. Und wie viele Worte (und Gedanken!) fielen unter die Kategorien leeres Geschwätz, Gerüchte streuen, Selbstrechtfertigung, Kraftausdrücke, Verunglimpfung, Bosheit, Intrigen, Eigenlob o.ä.?
  5. Besonnenheit (Keuschheit) – Das griechische Wort sophrosyne (slaw. целомудрие) bedeutet nicht bloß Reinheit, sondern die Ganzheit der Gedanken, Gefühle und Regungen, also die vollständige Kontrolle über dieselben durch den Geist (gr. nous). - Haben wir zugelassen, dass in uns böse und unreine Gedanken herrschten, dass seelische und leibliche Leidenschaften in uns brodelten und diese unser Handeln bestimmt haben? Haben wir durch Gebet und Fasten Hass, Neid, Gefallsucht, Egoismus oder Hinterlist wirksam unterdrückt oder beherrschen sie unser Innenleben noch immer? Sind wir „eine neue Schöpfung“ (s. 2 Kor. 5:17; Gal. 6:15) oder ist alles beim Alten geblieben?
  6. Demut – Keiner freut sich über Kritik oder Vorwürfe, klar. Aber sind wir jetzt vielleicht etwas mehr bemüht, sogar in scheinbar völlig haltlosen Anschuldigungen uns gegenüber vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit zu erkennen? Oder reagieren wir – auch auf berechtigte Vorhaltungen – mit Abneigung, Kränkung, Nachtragen (vgl. Spr. 9:7-10; Mt. 5:11-12)?
  7. Geduld – Warten wir in unübersichtlichen und klärungsbedürftigen Situationen, bis uns Gott (als Antwort auf unser Gebet) einen Fingerzeig gibt, oder richten wir überhastet und unüberlegt alles nach unserem menschlichen Denken aus? Neigen wir immer noch dazu, den Mitmenschen ihre Fehler nachzusehen? Halten wir Versuchungen stand (s. Jak. 1:12) oder kapitulieren wir immer wieder von neuem bei der ersten Anfechtung vor dem Widersacher?
  8. Liebe – Sind wir wenigstens um ein paar wenige Schritte vorangekommen in dem, was in 1 Kor. 13:4-8a steht: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf“?.. Vollkommen klar, dass da bei uns allen noch sehr viel „Luft nach oben“ ist. Aber ist nach vierzig Tagen Beten und Fasten wenigstens auch etwas mehr Luft nach unten vorhanden?.. Und haben wir von uns aus alles unternommen, um uns, da wo es nötig war, mit unseren Nächsten zu versöhnen?
  9. Sündenerkenntnis – Hat uns die Vorbereitungszeit auf das Fasten im Bemühen, unsere eigene Unwürdigkeit zu sehen, vorangebracht? Haben wir es wenigstens ansatzweise verinnerlicht, dass wir, gewiss, alle Sünder sind, dass aber über Wohl und Wehe vor Gottes Gericht entscheiden wird, ob wir unsere Sünden eingesehen und bereut haben – wie Zachäus (s. Lk. 19:1-10), der reuige Zöllner (s. Lk. 18:9-14), der verlorene Sohn (s. Lk. 15:11-32) oder die „Schafe“ zur Rechten des Herrn (s. Mt. 25:31-46); oder galten unsere „Anstrengungen“ nur dem Aufdecken der Schwächen unserer Mitmenschen? Wo wird unser Herz sein, wenn wir gedanklich nur wenige Schritte vom lebendig machenden Kreuz des Herrn stehen?.. - Sollte sich wirklich herausstellen, dass wir nur äußerlich (wenn überhaupt) gefastet haben, aber das Innerliche vollkommen vernachlässigt haben und jetzt, kurz vor dem Ziel, keinerlei Freude im Gottesdienst und im Gebet empfinden (s. Jak. 1:2-4; 1 Petr. 1:8; Röm. 14:17; 2 Kor. 7:4; 8:2; Gal. 5:22; Phil. 1:4,25; Kol. 1:12; 1 Thess. 1:6)?..
  10. Richten des Nächsten – „Na, was haben wir denn?“ fragt der Priester die ältere Dame vor der Beichte. - „Das Übliche!“ - „Na, da haben wir´s ja!“ ...

Suffix: Lobpreis Gottes – Haben wir in den zurückliegenden Wochen so gelebt, dass Gott durch uns und unser Handeln gepriesen wurde? Oder wurde, im Gegenteil, unseretwegen Tag für Tag der Name Gottes unter den Nicht-Gläubigen gelästert (s. Röm. 2:24; vgl. Jes, 52:2)? Wenn ich mich jetzt einem unvoreingenommenen Urteil stellen müsste – auf welche Seite würde sich die Waage wohl neigen?!.. Bin ich jetzt verloren? Soll ich mich nun aufhängen (s. Mt. 27:5)?! - Nein (s. Jak. 1:5-7)! Es gibt immer einen Reset-Button: „Ich aber schaue aus nach dem Herrn, ich warte voll Vertrauen auf Gott, meinen Retter. Mein Gott wird mich erhören“ (Mi. 7:7). Und zur Aktualität: „Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht viel Freude zu bringen, sondern Schmerz; später aber schenkt sie denen, die durch diese Schule gegangen sind, als Frucht den Frieden und die Gerechtigkeit“ (Hebr. 12:11). Amen.

Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch