Predigt zum Hochfest des Tempelgangs der Allerheiligsten Gottesgebärerin (Hebr. 9: 1-7; Lk. 10: 38-42, 11: 27-28) (04.12.2019)

„Es steht die Königin zu Deiner Rechten, in goldgewirkte Gewänder gekleidet und bunt geschmückt. Höre, Tochter, und sieh, und neige Dein Ohr, und vergiss Dein Volk und das Haus Deines Vaters, denn es verlangt der König nach Deiner Schönheit, denn Er ist Dein Herr, und Du wirst Ihn anbeten. Und die Tochter von Tyros wird mit Geschenken kommen, Dein Antlitz werden anflehen die Reichen der Völker. All die Herrlichkeit der Königstochter kommt aus dem Inneren, mit Goldtroddeln ist Sie gekleidet und bunt geschmückt. In Ihrem Gefolge werden dem König Jungfrauen gebracht, die Ihr nahe sind, werden zu Dir gebracht. Sie werden in Freude und Jubel gebracht und in den Tempel des Königs geführt“ (Ps. 44:10-16). 

Liebe Brüder und Schwestern, 

"Heute ist der Beginn des Wohlgefallens Gottes und die Ankündigung der Erlösung der Menschen“ - singt die Kirche zum Fest der Einführung der Allerheiligsten Gottesgebärerin in den Tempel. Und im Orthros sangen wir anstelle des Magnifikat: „Die Engel sahen den Einzug der Allreinen und waren erstaunt: Wie konnte die Jungfrau in das Allerheiligste hineingehen?“ Auf einigen Ikonen zum Fest sind neben dem Hohepriester Zacharias, der, geleitet vom Heiligen Geist, die dreijährige künftige Gottesgebärerin in das Allerheiligste führt, den heiligen Gottesahnen Joachim und Anna und den Kerzen tragenden Jungfrauen auch Engel abgebildet, womit ausgedrückt wird, dass dieses unscheinbar anmutende Ereignis von überirdischer Tragweite war. Der äußere Rahmen der feierlichen Einführung in den Tempel – der Erfüllung des elterlichen Gelübdes für den unverhofften Kindersegen im hohen Alter – dürfte im Vergleich zu Triumphzügen irdischer Herrscher eher bescheiden gewesen sein. Doch nicht in ihrer äußeren Prachtentfaltung und nicht in ihrer öffentlichen Außenwirkung manifestiert sich die Bedeutung diese Ereignisses. Gott, oder hier der „Beginn Seines Wohlgefallens“, offenbart Sich nicht im Sturm, nicht im Erdbeben und nicht im Feuer, sondern in einem sanften, leisen Säuseln (s. 3 Kön. 19:11-12). Auch der Herr hielt auf einem Eselsfüllen Einzug in Jerusalem, nicht auf einem weißen Ross und ohne militärischen Pomp. Doch wo sind die Werke der großen Herrscher der Menschheitsgeschichte, deren Namen uns noch in Erinnerung geblieben sind? Zu ihrem Gedenken errichtete Pyramiden und Mausoleen sind, sofern noch erhalten, bei Historikern und Touristen längst bekannter als ihre Namensgeber. Und selbst die wichtigsten welthistorischen Ereignisse sind völlig unbedeutend im Vergleich zum (aus irdischer Sicht) relativ unspektakulären Tempelgang eines dreijährigen  Mädchens, welcher sogar die himmlischen Kräfte in Erstaunen versetzte. Die „Ankündigung der Erlösung der Menschen“ war wie der Morgenstern, der in der Dämmerung den nahenden Aufgang der „Sonne der Gerechtigkeit“ vor-andeutete. Es ist somit ein Ereignis, das für die gesamte Menschheit von allergrößter Bedeutung ist. Und da das Weltall in Gottes Ratschluss für den Menschen erschaffen worden war und der einzelne Mensch folglich unvergleichlich wertvoller ist als die ganze Welt (s. Mt. 16:26; Mk. 8:36; Lk. 9:25), ist dieses für die Heilsgeschichte relevante Ereignis unendlich bedeutender, wirkungsvoller und nachhaltiger als alle uns bekannten Meilensteine der Weltgeschichte. 

Gott hat es zudem überhaupt nicht nötig, durch großartige Zeichen bei den Menschen „Aufsehen zu erregen“ (s. Mt. 12:38-39; Mk. 8:11-12; Lk. 11:16,29-31). Die biblische Geschichte überlieferte uns zwar zahlreiche große Wundertaten Gottes, aber damals konnte bestenfalls nur ein Bruchteil der Erdbevölkerung davon Kenntnis erlangen. Doch auch ohne ein großes Spektakel erreicht Gottes Botschaft die Menschen. Das größte Wunder ereignete sich bekanntlich in einer kleinen Höhle zu Bethlehem, äußerlich wahrnehmbar durch ein in Windeln gewickeltes Kindlein, das in einer bescheidenen Futterkrippe lag. Und seither wird das Fest der Menschwerdung Gottes in der ganzen Welt gefeiert, wenngleich der wahre Sinn dieses Ereignisses in den allermeisten Fällen in den Hintergrund geraten ist. Gott gibt aber jedem Menschen die Gelegenheit, in diesem Ereignis, das die Kirche heute bereits im Tempelgang der „hauptverantwortlichen“ Gottesgebärerin ankündigt, den Quell der ewigen Freude zu finden. Menschliche Logik allein hilft niemals weiter, wenn man Gottes Ratschlüsse erfassen will, aber sie kann mitunter hilfreich sein: Die weltweite Feier der Geburt Christi wäre doch völlig  sinnlos, wenn es sich dabei um einen gewöhnlichen Menschen gehandelt hätte; die Geburt eines Menschen (s. Ps. 86:5) jedoch, Dessen Erscheinen das Volk Israel im Gesetz und den Propheten harrte und in Dessen Geburt die Zeitrechnung der ganzen heutigen Welt ihren Anfang nimmt, ist hingegen fürwahr sinnstiftend und weltbewegend!    

Für uns ergibt sich aus dem soeben Dargelegten, dass es überhaupt nicht wichtig ist, hier in diesem Leben „groß herauszukommen“. Zeitliche Dinge wie Reichtum, Macht, Ruhm, Karriere etc. haben alle ihr irdisches Verfallsdatum, und in himmlischer Hinsicht sind sie gar nicht existent. Wer aber so wie die „Magd des Herrn“ (Lk. 1:38) aus Nazareth in der Herrlichkeit aus dem Inneren erstrahlt (s. Ps. 44:14), wird „einen bleibenden Schatz im Himmel haben“ (s. Mt. 19:21; Mk. 10:21; Lk. 18:22; vgl. Mt. 6:19-21; Lk. 12:33-34). Jeder Bettler, jeder nur mäßig Begabte, jeder Krüppel oder jeder völlig unauffällige Normalbürger kann folglich durch die Gnade Gottes zur obersten himmlischen Kategorie der „Hausgenossen Gottes“ (Eph. 4:19) aufsteigen, wenn er nur die Gebote Gottes hält und an den lebenspendenden Mysterien der Kirche teilnimmt. Dann wird auch er zu einem heiligen „Tempel Gottes“ (s. 1 Kor. 3:16-17; 2 Kor. 6:16; Eph. 2:21-22). Amen.

Jahr:
2019
Orignalsprache:
Deutsch