Predigt zum Herrentag des verlorenen Sohnes (1. Kor. 6:12-20; Lk. 15:11-32) (04.02.2018)

Liebe Brüder und Schwestern,

 

es wird ernst. Seit einer Woche singen wir im sonntäglichen Orthros: "Der Buße Pforten öffne mir, o Lebensspender, denn früh am Morgen sehnt sich mein Geist zu Deinem heiligen Tempel...", seit dem Orthros heute Morgen (bzw. nach slawischer Tradition ab gestern Abend) -  den Psalm "An den Flüssen Babylons, dort saßen wir und weinten, wenn wir an Sion dachten". Es sind Gesänge, die bei schwachem Kerzenlicht langgezogen vorgetragen werden und zutiefst die Seele berühren. Sie handeln von Sehnsucht, Weinen. Ich kriege schon feuchte Augen, wenn ich nur an diese Momente denke... Aber nicht nur die liturgischen Gesänge drücken die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat aus; auch die Evangeliumslesung mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn dringt tief in die Herzen ein. Ein Halbwüchsiger, der sich von seinem Elternhaus emanzipieren wollte. Da wollte einer sein eigenes Leben führen, wozu er ja grundsätzlich - nach Gottes Plan - berechtigt war; nur wollte er es nicht zu dem Zeitpunkt, den Gott festgelegt hatte, sondern schon vorher... (s. Lk. 15:12; vgl. Gen. 3:5,22; Gal. 4:2). Und jetzt, in der Not, wird er erwachsen oder, besser, er tut den ersten Schritt dazu, durchmacht einen Reifeprozess (s. Lk. 15:17-19). Er erkennt, dass er ohne väterliche Liebe und Fürsorge, ohne elterliche Strenge und Disziplinierung (s. Lk. 15:29) sich ins Elend hineinmanövriert hat. Als Kind wollte ich auch erwachsen sein, eigenes Geld haben, tun was ich will. "Freiheit muss paradiesisch sein", dachte ich. Das Wort Verantwortung kannte ich nicht.

Aber welchen Bezug hat der verlorene Sohn zu uns? Wir sind schließlich Christen, die nach ethischen Normen handeln und leben, keine Halodris.

Richtig! Aus menschlicher Sicht mag dies wohl zutreffend sein. Und wenn das Ziel meines Lebens darin bestünde, ein moralisch integrer Mensch zu sein, hätte ich mein Ziel jetzt mehr oder weniger erreicht. Aber dann bräuchte ich Christus nicht, der uns den Heiligen Geist gesandt hatte, damit wir die Vergöttlichung erlangen. Und wenn das mein Maßstab ist, dann müsste ich doch Christus (s. Eph. 5:1) ähneln, zumindest aber dem Apostel Paulus (s. 1 Kor. 4:16; Phil. 3:17), der unzweideutig gesagt hat: "Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme" (1 Kor. 11:1). Ohne diese Messschnur könnte ich wohl sehr gut mit mir selbst im Reinen sein. So aber, wenn ich in meine Seele blicke, - welche Abgründe sich da auftun! Ich bin Milliarden von Lichtjahren von diesem Zeil entfernt. Mein ganzes inneres und äußeres Leben spielt sich nur um irdische, zeitliche und leibliche Dinge ab. Sogar beim Gebet bin ich nicht beim Herrn, sondern im Fussballstadion, am Urlaubsort, beim Grillfest im Garten oder im Tatort-Krimi. Deshalb ruft uns heute der Apostel zu: "Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst; denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Verherrlicht also Gott in eurem Leib!" (1 Kor. 6:19-20).

Die Kirche stellt uns den Hochleistungsscheinwerfer zur Verfügung, mit dem wir den Abgrund unserer Seele ausleuchten können. Jeder von uns kriegt gleich beim Einstieg in dieses Seelenbad der Großen Fastenzeit als Reinigungsmittel ein Gebet, in dem wir u.a. um Sophrosyne (слав. целомудрие) bitten, was viel mehr als bloß Keuschheit bedeutet. Es beinhaltet eine ganzheitliche Sichtweise auf sein Innerstes, ein intaktes Zusammenwirken aller geistlichen, seelischen und körperlichen Kräfte. Sie sind mir von Gott anvertraut, und gehören, so gesehen, nicht mir. Aber sie sind mir nichtsdestotrotz gegeben, und ich kann sie kontrollieren, steuern, mich ihrer bedienen. Mit Christus an meiner Seite (bzw. in meiner Seele) kann ich Großartiges schaffen, so dass ich sprechen kann: "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" (Gal. 2:20).

Und, - leben wir auch nur annähernd nach diesen Kriterien?.. - Es ist unsinnig, darüber auch nur nachzudenken. Damit haben wir uns längst abgefunden. Aber empfinden wir wenigstens Sehnsucht nach unserem wahren Zuhause (s. Hebr. 13:14), das in der väterlichen Geborgenheit der Seele und des Herzens liegt?

Jeder Gottesdienst beginnt mit der Fürbitte: "Um den Frieden von oben und das Heil unserer Seelen", ergänzt durch die Bitte: "Um den Frieden der ganzen Welt und den Wohlbestand der heiligen Kirchen Gottes", und endet mit dem Flehen um "das Gute und Heilsame für unsere Seelen und Frieden für die Welt". - Inneres und Äußeres, Seele und Leib, gehören irgendwie immer zusammen.

Wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn wird auch unsere Rückkehr zum Vater auf Widerstände der Kräfte dieser Welt treffen (s. Lk. 15:29-30; 2 Tim. 3:12). Aber Gott kommt dem Umkehrenden entgegen (s. Lk. 15:20), "denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben, während wir auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Christus Jesus" (Tit. 2:11-13). Na, das sieht doch schon alles viel erfreulicher aus! Unsere Chancen, ob unserer seelischen Elendigkeit nicht unterzugehen, sind also durchaus realitisch. GOTT sei Dank!!! Wieder so ein Beispiel, wie in ganz wenigen Worten die gesamte Frohe Botschaft des Neuen Testaments ausgedrückt wird... Welch ein Glück für uns! Wir Kleingläubige brauchen demnach nicht mehr "so ängstlich auf Tage, Monate, bestimmte Zeiten und Jahre" zu achten (Gal. 4:10), weil "wir wissen, dass Gott bei denen, die Ihn lieben, alles zum Guten führt" (Röm. 8:28). Mit Gottes Hilfe wird die bevorstehende Anstrengung kein Kampf gegen Windmühlen sein, sondern die Rückkehr in die ausgebreiteten Arme des liebenden Gottes (s. Lk. 15:20), der um unseretwillen, am Kreuze hängend, die ganze sündige Welt umarmt. Amen.

Jahr:
2018