Predigt zur Inernationalen Gebetswoche der Evangelischen Allianz in Weimar - Thema: \"Der Glaube allein\" (Joh. 7: 37-39a; Apg. 17: 22-34) (12.01.2017)

"Am letzten Tag des Festes, dem großen Tag, stellte Sich Jesus hin und rief: ´Wer Durst hat, komme zu Mir, und es trinke, wer an Mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Aus seinem Innersten werden Ströme von lebendigem Wasser fließen`. Damit meinte Er den Geist, den alle empfangen sollten, die an Ihn glauben" (Joh. 7: 37-39a). "Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: ´Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Gott, Der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, Er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt Sich auch nicht von Menschen bedienen, als brauche Er etwas: Er, Der allen das Leben, den Atem und alles gibt. Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie Ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist Er fern. Denn in Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von Seiner Art. Da wir also von Gottes Art sind, dürfen wir nicht meinen, das Göttliche sei wie ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung. Gott, Der über die Zeiten der Unwissenheit hinweggesehen hat, lässt jetzt den Menschen verkünden, dass überall alle umkehren sollen. Denn Er hat einen Tag festgesetzt, an dem Er den Erdkreis in Gerechtigkeit richten wird, durch einen Mann, Den Er dazu bestimmt und vor allen Menschen dadurch ausgewiesen hat, dass Er Ihn von den Toten auferweckte`. Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, spotteten die einen, andere aber sagten: ´Darüber wollen wir dich ein anderes Mal hören`. So ging Paulus aus ihrer Mitte weg. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig, unter ihnen auch Dionysius, der Areopagit, außerdem auch eine Frau namens Damaris und noch andere mit ihnen" (Apg. 17: 22-34). Liebe Brüder und Schwestern, gestatten Sie mir gleich zu Beginn die etwas pathetische Feststellung, dass sich hier und heute etwas Bemerkenswertes ereignet: zu Beginn des großen Jubiläumsjahres der Reformation spricht ein orthodoxer Priester in einem römisch-katholischen Gemeindehaus anlässlich der Internationalen Gebetswoche der Evangelischen Allianz. Heute ist das in dieser Konstellation inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden, obwohl die Orthodoxen doch allenthalben als rückwärtsgewandte Hardliner oder als erzkonservative Rigoristen gelten. Aber sind sie das wirklich? - Und wozu in aller Welt spreche ich das im Zusammenhang mit der 500-Jahrfeier der Reformation an?!.. Wir schreiben das Jahr 1517. Etwa sechs Jahrzehnte sind seit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg und seit dem Fall Konstantinopels vergangen, und genau ein Vierteljahrhundert seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Mithilfe des ersten Massenmediums der Geschichte versucht der Augustinermönch Martin Luther, die Römische Kirche zu reformieren. Tatsächlich gelingt ihm Historisches: durch die Übersetzung der Heiligen Schrift ins Deutsche können plötzlich auch Laien die Bibel in einer für sie verständlichen Sprache lesen. Aber der Preis für diesen epochalen Durchbruch ist hoch: statt einer Reformation der Papstkirche kommt es zur Spaltung der abendländischen Christenheit. Diese vier Ereignisse - die Erfindung des Buchdrucks, der Untergang Ostroms, die Entdeckung der Neuen Welt und die Reformation - markieren den Beginn der Neuzeit. In der Folgezeit entstehen neue mächtige Nationalstaaten. Westeuropa steht nun im Mittelpunkt der Weltgeschichte: von nun an löst eine Weltmacht die andere auf den Weltmeeren ab: Portugiesen, Spanier, Holländer, Engländer bestimmen das Geschehen auf unserem Kontinent und dem gesamten Globus. Das Abendland - allen voran Italien - erlangt in der Renaissance eine nie dagewesene kulturelle Blüte, tritt in gewisser Weise das kulturelle Erbe des untergegangenen Oströmischen Reiches an. Die Epoche der Aufklärung in der westlichen Hemisphäre nimmt nun ihren Anfang und prägt das rationalistische Denken der Westeuropäer bis heute. Die morgenländische Christenheit hingegen, die im ersten Jahrtausend das Weltgeschehen dominierte und ein immenses gesamtkirchliches Erbe hinterließ, befindet sich nun unter islamischer Knechtschaft. Schon im achten Jahrhundert fielen der Nahe Osten und Nordafrika, bis dahin Hochburgen der hellenistich-christlichen Zivilisation, an die Araber. Nun ist das letzte Bollwerk - Byzanz - von den Osmanen eingenommen. Das Moskowiterreich hat sich noch nicht von dem dreihundertjährigen muslimischen Tatarenjoch erholt, es schlummert noch im tiefsten Mittelalter, und Moskau sieht sich ständigen Angriffen durch die Tataren ausgesetzt. Bis zu den Reformen Peters des Großen werden beinahe noch zwei Jahrhunderte vergehen. Aber in einem ist der darniederliegende christliche Ostem dem Abendland voraus: seit Jahrhunderten lernt jedes Kind die Heilige Schrift in seiner Muttersprache, ohne dass es bei der Kirchenobrigkeit Anstoß erregen würde. Es ist fast wie mit der "Entdeckung" Amerikas. Kolumbus gilt ja gemeinhin als Entdecker des Kontinents, obwohl nachweislich Wikinger, wahrscheinlich auch Chinesen und Polynesier, ja vielleicht sogar schon die alten Griechen vor ihm die Neue Welt erreicht und dort zivilisatorische Spuren hinterlassen haben. Und so bedurfte es im christlichen Morgenland zu keiner Zeit einer "Reformation", weil ganz selbstverständlich jeder Handwerker und Bauer die Heilige Schrift kannte, während der erste christlich-abendländische Kaiser, Karl der Große, Zeit seines Lebens Analphabet blieb. Das Fahrrad hätte also nicht neu erfunden werden müssen; es existierte schon seit langem. Insofern war die Reformation im kulturellen Sinne lediglich der Anschluss des Abendlandes an die Neuzeit, die im Morgenland - der Wiege des Christentums - schon reichlich ein Jahrtausend zuvor begonnen hatte. Durch Dr. Martin Luther verlor die Römische Kirche die alleinige Deutungshochheit über die Heilige Schrift und über Glaubensfragen allgemein. Jeder Einzelne war nun sein eigener "Papst". Zeitenwenden haben oft ihre Parolen, wie z.B. die Losungen der Französischen Revolution. Eine Losung Martin Luthers war "Sola fide" - der Glaube allein macht selig. Deshalb wollen wir uns heute mit dem Glauben auseinandersetzen. Die Formel "der Glaube allein" als Bedingung für das Seelenheil entstammt historisch wahrscheinlich in der Tat Martin Luther, aber sie ist bei vielen zeitgenössischen Getauften - auch Orthodoxen - populär. Legt man die folgenden Worte des Herrn zugrunde: "Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Mk. 16: 16), könnte man sich in der Meinung bestätigt sehen, der Glaube allein sei für einen Getauften schon ausreichend. In der modernen Interpretation hört sich das so an: "Ich bin getauft, ich glaube an Gott, bin kein Mörder und kein Dieb. Also bin ich ein guter Christ. Jedenfalls bin ich besser als diese Heuchler, die stundenlang in der Kirche beten und dann doch so unfreundlich sind". Das ist das Totschlagargument der lauwarmen Christen schlechthin. Oft sagen solche Minimalgläubige auch: "Jeder glaubt doch auf seine Weise" - und haben nicht ganz unrecht - sogar im Sinne Martin Luthers. Ob der das aber so meinte?!... Bestünde das Neue Testament aus nur diesem besagten Vers, könnte man wohl der Ansicht sein, schon ein diffuser, undefinierter Glaube an Gott sei ausreichend für das Seelenheil. Aber es gibt ja die bekannten "Gegenargumente": "Du glaubst: es gibt nur den einen Gott. Damit hast du recht; das glauben auch die Dämonen, und sie zittern. Willst du also einsehen, du unvernünftiger Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist? Wurde unser Vater Abraham nicht aufgrund seiner Werke als gerecht anerkannt? Denn er hat seinen Sohn Isaak als Opfer auf den Altar gelegt. Du siehst, dass bei ihm der Glaube und die Werke zusammenwirkten und dass erst durch die Werke der Glaube vollendet wurde" (Jak. 2: 19-22). Oder: "Wenn ich alle Glaubenskraft besäße, und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts" (1. Kor. 13: 2b). Es stimmt schon, dass der Glaube die Grundlage für das Seelenheil darstellt - ein Glaube freilich, der die bedingungslose Opferbereitschaft Abrahams oder die uneigennützige Liebe des Paulus hervorbringen konnte. Nehmen wir die Gleichnisse des Herrn: vom Zöllner und Pharisäer (Lk. 18: 9-14), von den zehn Jungfrauen (Mt. 25: 1-13), von den Talenten (Mt. 25: 14-30), vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt. 22: 1-14), vom selbstsicheren Reichen, der gar nicht mehr wusste, was er mit seinem Reichtum anfangen sollte (Lk. 12: 13-21), vom anderen Reichen, der den armen Lazarus vor seiner Haustür verhungern ließ (Lk. 16: 19-31) - sie alle haben im Grunde nichts Böses getan und waren wohl auch nicht ungläubig. Gewiss, die beiden Reichen und der faule Knecht mit dem anvertrauten Talent unterließen es, Gutes zu tun. Sie dachten, dass man ohne Anstrengungen und Opfer in das Himmelreich eingehen könne, und waren sich ihres Heils sehr sicher. Die Geladenen zum Festmahl erwiesen sich der Ehre einer königlichen Einladung als unwürdig, weil ihre alltäglichen Belange für sie wichtiger waren, als die Freundschaft des Königs, während der Gast ohne hochzeitliches Gewand meinte, zum Nulltarif in das Hochzeitsgemach eingehen zu können. Die fünf törichten Jungfrauen erfüllten sogar ihre Keuschheitsgelübde, und der Pharisäer befolgte penibel alle Vorschriften des Gesetzes; ihre Anstrengungen und Opfer waren sogar beträchtlich, aber sie liefen ins Leere und blieben fruchtlos, weil sie nicht auf Gottes Willen ausgerichtet waren, sondern auf eigenen menschlichen Vorstellungen von Frömmigkeit beruhten. Ähnlich war es bei Kain, dessen Opfer nicht aus reinem Herzen kam und von Gott nicht angenommen wurde (s. Gen. 4: 5). Und so wurde er, der Gott ein Opfer darbrachte, zum Brudermörder!.. Kurzum, der Glaube muss also immer auf Gottesfurcht und Nächstenliebe aufbauen, sonst werden die Werke des Menschen vor Gott nicht bestehen (s. 1. Kor. 3: 11-15). Der serbische Heilige Justin (Popovic, +1979) hat es so ausgedrückt: "Menschenliebe ohne Gottesliebe ist Eigenliebe; Gottesliebe ohne Menschenliebe ist Selbstbetrug". Unsere heutigen beiden zu behandelnden Textstellen bergen auch so manche Erkenntnis darüber, wie der Glaube sein sollte. Erstens, wenn wir wirklich glauben, müssten nach den Worten des Herrn aus unserem Innersten Ströme der göttlichen Gnade fließen, denn jeder hat die Befähigung dazu, wenn er wirklich nach dem Glauben lebt. Die Betonung auf das Innerste ist ja nicht zufällig. Nach außen hin moralisch und fromm leben ist eine Sache, - das tat auch Kain, - aber vor Gott rein zu stehen ist eine ganz andere Sache. Und deshalb kann man, zweitens, wie die intellektuelle Elite der antiken Welt entsprechend den gängigen metaphysischen Vorstellungen an die Unsterblichkeit der Seele glauben, aber trotzdem unfähig sein, wie die Athener oder Korinther, die leibliche Auferstehung zu erfassen. "Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und unser Glaube sinnlos" (1. Kor. 15: 14). Heute scheint es, dass der Glaube an die Auferstehung bei Vielen zum unbedeutenden Nebenaspekt geworden ist. "Christ sein" bedeutet heute: karitative Werke, soziales Engagement, Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen - nach außen hin gute Werke vollbringen und sich dadurch die "Eintrittskarte fürs Paradies erkaufen". Ein Ablasshandel durch die Hintertür ist das, der an das Verhalten der fünf törichten Jungfrauen erinnert. Der Glaube ist vorhanden, er motiviert auch zu guten Werken, bestimmt den äußeren Lebenswandel, aber der Ansatz ist nicht spirituell, sondern fleischlich (vgl. Röm. 8: 1: 17). Die Sorge um das leibliche Wohl überlagert die Sorge um das Seelenheil. "Der irdisch gesinnte Mensch aber lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann" (1. Kor. 2: 14). Selbst die Jünger des Herrn, die Er Selbst auserwählt hatte und die drei Jahre lang Tag und Nacht mit Ihm zusammen waren, sahen für sich ein Defizit des Glaubens: "Die Apostel baten den Herrn: ´Stärke unseren Glauben!` Der Herr erwiderte: ´Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen." (Lk. 17: 5-6). Und der Herr fährt fort: "Wenn einer von euch einen Sklaven hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: ´Nimm gleich Platz zum Essen`? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: ´Mach mir etwas zu essen, gürte dich, und bediene mich; wenn ich gegessen und getrunken habe, kannst auch du essen und trinken.` Bedankt er sich etwa bei dem Sklaven, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde? So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: ´Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan`" (17: 7-10). Im Klartext: erst müssen wir unsere Pflicht gegenüber unserem Herrn erfüllen, Ihm lange Zeit unter großer Anstrengung ("pflügen") und hoher Verantwortung ("Vieh hüten") treu dienen, danach erst dürfen wir den geistlichen Lohn für unsere Arbeit ernten, denn was ist ein Glaube wert, der keine Frucht hervorbringt (s. Mt. 3: 8)?! - "Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung; (...) Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Begierden und Leidenschaften gekreuzigt" (Gal. 5: 22-24). Wer also seinen menschlichen Willen abtötet und sich Gottes Willen fügt, den wird Gott erhören und ihn mit Gnadengaben ausstatten. Im Grunde unterscheidet sich ein Heiliger von uns Otto Normalgläubigen lediglich dadurch, dass er trotz der ihm zuteil gewordenen Gnadengaben demütig bleibt ("ich habe als unnützer Sklave nur meine Schuldigkeit getan"), d.h. sich als allerletzten Sünder vor Gott betrachtet und einzig seine Sünden, niemals aber seine guten Werke sieht (s. Mt. 25: 37-39). Diesen geistlichen Zustand der Demut zu erreichen, um vor dem Richterstuhl Christi zu bestehen, muss unser allervorrangigstes Ziel sein. Aber wie sollen wir das schaffen?... Durch Vertiefung im Glauben. Wir feierten vor kurzem Weihnachten. Was für ein wundervolles Fest! Was aber ist so wundervoll daran? Dass ein Kind geboren wurde? - Ja, das ist ein Wunder, wenn auch ein alltägliches. Dass dieses Kind von einer Jungfrau geboren wurde? - Ja, das ist ein großes, von den Propheten auf geheimnisvolle und bildhafte Weise angedeutetes Wunder. Und selbst wenn ich den Wahrheitsgehalt der Weihnachtsgeschichte nicht bezweifle, auch an das noch größere Wunder der leiblichen Auferstehung Christi glaube, sei die Frage erlaubt: was habe ich von diesem Wunder? Wenn ich nur als äußerer Betrachter diesem Wunder begegne, dann ist Weihnachten für mich bloß eine märchenhafte Erzählung, bestenfalls die Erinnerung an ein Ereignis, das vor zweitausend Jahren stattfand und das ich heute bei nasskalter Witterung mit Glühwein und gebratenen Mandeln bzw. am heimischen Herd mit Weihnachtsbaum und trauter familiärer Gemeinsamkeit à la Familie Hoppenstedt begehe. Das russische Pendant dazu ist das Backen von Osterkuchen und das Bemalen von Ostereiern zur Auferstehung Christi - Form ohne Inhalt! Wenn ich aber die Geburt oder die Auferstehung Christi eingedenk der Tatsache feiere, dass wir Sünder sind, dann beginne ich zu begreifen, dass Gott ein noch viel größeres Wunder um unseretwillen vollbracht hat. Große Werke sind für den Allmächtigen "normal", das entspricht ja der menschlichen Vorstellung von Gott. Aber was jede Wahrnehmung von Gott übersteigt, und sogar aus göttlicher Perspektive großartig ist, ist die Demut Gottes. Gott ist nicht nur großartig, Er kann Sich sogar aus Liebe zu uns Menschen erniedrigen. "Er (Christus) war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern Er entäußerte Sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; Er erniedrigte Sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz" (Phil. 2: 6-8). So einen Herrn haben wir! Das übersteigt unendlich jegliche menschliche Vorstellungskraft, das ist das Wunder unseres Glaubens! Und an diesem Wunder dürfen wir uns selbst nach Maßgabe unserer menschlichen Möglichkeiten auch beteiligen. Dazu ist uns unsere Freiheit, zu der wir berufen sind, gegeben (s. Gal. 5: 13)! Deshalb bietet uns Gott seit der Frühzeit der Kirche vor Weihnachten und Ostern jeweils vierzigtägige Fastenzeiten an, in denen wir uns darin üben können, uns selbst als Sünder zu sehen und uns von der Unreinheit der Herzen und der Seelen zu reinigen. Wer das tut, wird Weihnachten und Ostern nicht als Folkloreveranstaltung betrachten, sondern darin seinen Lebensinhalt sehen. "Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit" (Kol. 3: 4). Dazu muss Christus aber unser Leben sein! "Darum tötet, was irdisch an euch ist: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden, die Habsucht, die ein Götzendienst ist" (Kol. 3: 5). Wer das beherzigt, ist ein wahrer Christ, nicht der, welcher unter dem Deckmantel der Toleranz der Beliebigkeit anheimfällt und folglich von Gott durch die Begierde seines Herzens der Unreinheit ausgeliefert wird (s. Röm. 1: 24). Für ihn wird auch Fasten keine bloße Diät, Beten keine Pflichtübung sein, sondern Verzicht auf irdische Annehmlichkeiten zugunsten der unvergleichlich süßeren himmlischen Freude der Gemeinschaft mit Christus. Und so sehen wir Orthodoxe die Teilnahme an der Heiligen Kommunion als das größte Glück an, das wir haben. "Wer Mein Fleisch isst und Mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und Ich werde Ihn aufwecken am Letzten Tag. Denn Mein Fleisch ist wirklich eine Speise, und Mein Blut ist wirklich ein Trank. Wer Mein Fleisch isst und Mein Blut trinkt, der bleibt in Mir, und Ich bleibe in ihm" (Joh. 6: 54-56). Wer daran glaubt und danach lebt, der hat das ewige Leben. Einer, der stattdessen auf seine moralische Lebensführung und sozialen Energien vertraut, der hat nicht wirklich den Glauben. Er braucht Christus ja eigentlich nicht, denn er ist kein Sünder, bedarf also auch keiner Erlösung. Seinetwegen hätte Christus gar nicht auf die Erde zu kommen brauchen. Für den wahren Nachfolger des Herrn gelten aber die Worte Christi: "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. (...) Denn Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten" (Mt. 9: 12-13). Es ist ein schwieriger Weg, der durch "die enge Tür" (Lk. 13: 24) führt, und nicht viele finden ihn. Nur so aber können sich die Worte der Schrift an uns bewahrheiten: "Der aus Glauben Gerechte wird leben" (Röm.1: 17). Amen.
Jahr:
2016
Orignalsprache:
Deutsch