Predigt zum Herrentag vom Jüngsten Gericht (1. Kor. 8: 8 – 9: 2; Mt. 25: 31-46) (06.03.2016)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

der heutige Tag wird von der „Erinnerung“ an den letzten Tag der Weltgeschichte geprägt. Das gibt uns Anlass, über das kirchliche Gedenken als solches zu reflektieren, das in Verbindung mit heilbringenden Ereignissen in der Kirche eine ganz zentrale Rolle einnimmt. So sprach der Herr beim letzten Abendmahl nach der Einsetzung der Heiligen Eucharistie: „Tut dies zu Meinem Gedächtnis“ (Lk. 22: 19). Manche sehen sich durch diesen Satz in ihrer These von der Etablierung einer bloßen Erinnerungskultur bestätigt. Aber von welchem Andenken ist hier die Rede? Vom schlichten nostalgischen Schwelgen in Erinnerungen an schöne Momente?.. - Im priesterlichen Gebet der Chrysostomos-Liturgie im Anschluss an die Einsetzungsworte des Herrn zum Höhepunkt der Anamnese heißt es: „Wir gedenken dieses heilbringenden Gebotes und all dessen, was um unseretwillen geschehen ist: des Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tage, des Sitzens zur Rechten, der zweiten und herrlichen Wiederkehr“. - Kann man denn auch des Zukünftigen gedenken?

In den Hymnen der Kirche besingen wir ja zurückliegende Ereignisse, welche durch das Wort heute (kirchenslaw. днесь) „aktualisiert“ werden. Dieser heilsgeschichtliche Bezug auf unser Leben legt Zeugnis davon ab, dass die Kirche als Leib Christi sowohl in dieser Welt, als auch in der kommenden Welt verankert ist. Zu ihr gehören die, welche noch in der zeitlichen Welt leben, aber auch die, welche bereits der Ewigkeit angehören. Heilige wie der Apostel Paulus haben Einblick in die Ewigkeit (2. Kor. 12: 2-4) und kehren wieder in diese Welt zurück. Umgekehrt kommen bereits entschlafene Heilige beizeiten in diese Welt, um den Gläubigen in ihrer Not beizustehen. Die Beziehung zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit ist im kirchlichen Leben folglich ambivalent, denn Christus wurde zeitlicher Mensch, blieb aber ewiger Gott. Zeitlosigkeit ist demnach ein Wesenszug der Kirche Christi, an dem wir Menschen teilhaben. In der Kirche Christi wird die in dieser Welt existente Trennlinie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben (vgl. Joh. 5: 25). Zeit ist eine Kategorie dieser Welt. „Hier“ beten wir z.B. vierzig Tage lang für unsere Verstorbenen, die aber „dort“ bereits der Ewigkeit angehören. Also sollten wir uns auch darauf einstellen, dass die zweite und herrliche Wiederkehr Christi – und somit das Jüngste Gericht – schon heute Realität ist. Kyrie eleison!

Deshalb wird auch eine solche Betonung auf das „Dreiecksverhältnis“ zwischen Gott, dem Mitmenschen und mir selbst gelegt. Es ist die totale Identifikation mit dem Nächsten, die uns alle miteinander der Gnade nach nach dem Vorbild der Göttlichen Trinität vereint. Nur wer sich mit seinem Nächsten identifiziert, der identifiziert sich auch mit Christus (s. Mt. 25: 40, 45). Was im heutigen Evangeliumstext allegorisch ausgedrückt wird, ist im Korintherbrief explizit als Sorge um das Seelenheil meines Nächsten formuliert (s. 1. Kor. 8: 11-12). Aber ich muss mich auch um mein eigenes Seelenheil kümmern, denn alles, was ich gegen jemanden hinter seinem Rücken getan, gesagt oder über ihn gedacht habe, wird für alle offenbar werden. Alle Gemeinheiten, Betrügereien, ja die widerwärtigsten Phantasien werden vor aller Welt zutage treten, alles Verborgene und Geheime wird offenbar werden (s. Mk. 4: 22;  Lk. 8: 17). Das eigene Gewissen darf am letzten Tag nicht mehr  unser Feind sein. Die Zeit ist noch unser Verbündeter, sie ist von Gott für uns gesegnet, damit wir mit unserem Gewissen ins Reine kommen (s. Mt. 5: 25). Buße tut also Not. Nur dann wird die „Erinnerung“ an das Ende der Welt uns helfen, so zu leben, dass wir uns an diesem Tag schadlos halten. 

Durch die zweite Wiederkehr Christi „sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden“ (Lk. 2: 35) - endgültig. Alles was bisher aus irdischer Perspektive sinnlos oder ungerecht erschienen haben mag, wird an diesem Tag wieder zurechtgerückt. Einziges Kriterium für Gut oder Böse, Richtig oder Falsch wird das Wort Gottes sein (s. Joh. 12: 48). An ihm werden sich alle messen lassen, die glauben, nach eigenen Regeln und Wertvorstellungen leben zu können. Wir erinnern uns z.B. an diese Worte des Herrn: „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg. 20: 35). Dabei will ich gar nicht über die gerechte Verteilung von materiellen Gütern reden, sondern das Augenmerk auf das höchste Gut lenken, das wir besitzen: unseren Glauben. Was mich so betrüblich stimmt, ist die Tatsache, dass sich so viele Eltern zwar um das materielle Wohl ihrer Kinder kümmern, aber null Aufwand betreiben, um den Kindern den himmlischen Reichtum zu vermitteln (s. Mt. 6: 19-21). Bekannt ist ein Fall in einer westdeutschen Großstadt, in der ca. 5.000 orthodoxe Christen leben. Für den staatlich finanzierten Religionsunterricht meldeten sich ganze 15 Kinder an, weil es für die Eltern eine Zumutung gewesen wäre, ihre Kinder zusätzlich ein Mal pro Woche nachmittags zur Schule bringen zu müssen. In manchen Fällen käme der Priester auf Wunsch auch nach Hause, aber selbst dann muss der Glaube hinter Freizeitsport, privatem Tanz- oder Musikunterricht zurückstehen, für die jedenfalls keine Mühen und Kosten gescheut werden. Zumindest in puncto Einsatzbereitschaft können wir Christen uns von den Moslems etwas abschauen. 

 

Ich möchte am Tag des Gerichts keinem mir Schutzbefohlenen in die Augen schauen wollen, der mir vorwurfsvoll sagt: „Warum hast du mir den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus nicht beigebracht und mir diesen nicht vorgelebt?“  „Wenn ihr euch auf diese Weise gegen eure Brüder versündigt und ihr schwaches Gewissen verletzt, versündigt ihr euch gegen Christus“ (1. Kor. 8: 12). Es ist also eminent wichtig, sich an das Kommende zu „erinnern“. Amen.

Jahr:
2016
Orignalsprache:
Deutsch