Predigt zur Internationalen Gebetswoche der Evangelischen Allianz in Weimar Ort: Internationale Jugendbegegnungsstätte Buchenwald Thema: „Willkommen zu Hause – Zu Hause und doch weit weg“ (Lk. 15: 25-30)

Liebe Brüder und Schwestern, der Text der heutigen Lesung stammt aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, das uns der Evangelist Lukas überliefert hat. Er schildert uns die Reaktion des älteren Sohnes auf die Rückkehr seines reumütigen Bruders: Der ältere Sohn war unterdessen auf dem Feld. Als er heimging und in die Nähe des Hauses kam, hörte er Musik und Tanz. Da rief er einen der Knechte und fragte, was das bedeuten solle. Der Knecht antwortete: „Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn heil und gesund wiederbekommen hat“. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm gut zu: doch er erwiderte dem Vater: „So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt: mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. Was am Verhalten des älteren Bruders als Reaktion auf die Rückkehr des jüngeren Bruders zunächst hervorzuheben ist, ist die Tatsache, dass seine Haltung von der menschlichen Betrachtungsweise her völlig schlüssig ist. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: vom Standpunkt auch der bei uns heute vorherrschenden Vorstellung von Vernunft, Gerechtigkeit, Logik und Moral sagt er die vollkommene Wahrheit. Es waren ja in der Tat keine unverschuldeten äußeren Umstände, die den jüngeren Sohn zunächst von dannen ziehen und nun wieder in das Haus seines Vaters zurückkehren ließen. Er ist also schuldig. Doch das wiederum ist die einzige Voraussetzung dafür, dass sich der Vater ihm gegenüber überhaupt gnädig erweisen kann – andernfalls wäre die Barmherzigkeit des Vaters dem bußfertigen Rückkehrer gegenüber ja eine angebrachte Wohltat, eine Notwendigkeit und keine Mildtätigkeit. Und das ist ein wesentlicher Aspekt der Parabel: Gott übt Barmherzigkeit den gefallenen Sündern gegenüber und kommt ihnen dabei sogar entgegen! Er rechnet dem Ungehorsamen die Verfehlungen nicht an, sobald dieser seine Schuld einsieht und zum Vater zurückkehrt. Es ist aber zugleich zentraler Bestandteil des Glaubens an den liebenden Gott, dass Er dieselbe Güte auch von uns Menschen zueinander erwartet. Und hier unterscheidet sich das göttliche Denken vom menschlichen, die geistliche Sphäre von der weltlichen grundlegend. Selbst der mildeste Richter kann bei liberalster Auslegung staatlicher Gesetze einem reuigen Straftäter zwar das Strafmaß vermindern – ihn aber freisprechen oder gar noch ehren?! - Nein, das kann nur Gott allein bzw. jemand, der den Geist Gottes besitzt und dadurch zum Erben der göttlichen Gnade geworden ist (s. Röm. 8: 1-17). Wir alle wollen doch Gottes Erben sein. Die Frage ist nur – wie? Der jüngere Bruder wollte sein Erbteil vor der vom Vater bestimmten Zeit (s. Gal. 4: 2) und gemäß seinem eigenen Willen bekommen, und der liebende Vater respektierte den freien Willen seines Sohnes. Und so lässt Gott es bei uns Menschen zu, dass wir durch unsere Eigenwilligkeit oftmals Not leiden müssen, um dadurch zu erkennen, dass nur ein demütiges und untergeordnetes Dasein im Hause des Vaters – der Kirche – ein behütetes Leben unter dem Schirm des Höchsten gewährleisten kann (s. Ps. 90: 1 / LXX). In der orthodoxen Kirche wird das Gleichnis vom verlorenen Sohn an den Sonntagen der Vorbereitungszeit zur Großen Fastenzeit in einer Reihe mit dem Gleichnis vom Zöllner und dem Pharisäer sowie der Geschichte von der Bekehrung des Oberzöllners Zachäus gelesen. Alle diese Geschichten zeugen vom immer wiederkehrenden Konflikt des menschlichen Denkens mit Gottes Weisheit. Der Pharisäer hat ja gemäß der zu seiner Zeit vorherrschenden gesellschaftlich etablierten Denkweise völlig recht, indem er sich seiner Frömmigkeit rühmt und den Zöllner verurteilt (s. Lk. 18: 9-14); die Leute von Jericho reagieren auf die Bevorzugung des verhassten Oberzöllners Zachäus so, wie Menschen nicht nur zur damaligen Zeit eben reagieren (s. Lk. 19: 1-10). Sie sehen zwar die äußere Begebenheit, erkennen in ihrer begrenzten menschlichen Betrachtungsweise aber nicht, wie Gott die Sünder zur Buße führt. DAS ist das Wunder unseres Glaubens, ohne das alles andere sinnlos wäre! Die Gleichnisse des Herrn beziehen sich ja nicht auf Randgruppen, sondern auf uns alle. Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste (1. Tim. 2: 15). Doch auf eigentümliche Weise bewahrheiten sich hier die Worte aus einem anderen Gleichnis: Viele sind gerufen, aber nur wenige auserwählt (Mt. 22: 14). Die Umkehr von uns Vielen besteht gerade darin, die verbleibende Zeit zur Buße zu nutzen, wie es der Prophet gesagt hat: Sucht den Herrn, solange Er Sich finden lässt, ruft Ihn an, solange Er nahe ist. Der Ruchlose soll seinen Weg verlassen, der Frevler seine Pläne. Er kehre um zum Herrn, damit Er Erbarmen hat mit ihm, und zu unserem Gott; denn Er ist groß im Verzeihen. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht Meine Wege – Spruch des Herrn. So hoch der Himmel über die Erde ist, so hoch erhaben sind Meine Wege über eure Wege und Meine Gedanken über eure Gedanken (Jes. 55: 6-9). Auch wenn wir alle bewusst keine ruchlosen Taten verüben und absichtlich keinen Frevel begehen: unsere irdische Denkweise führt doch dazu, dass wir selbst die Worte der Heiligen Schrift dazu verwenden, um danach zu trachten, was dem Fleisch entspricht (Röm. 8: 5). Die Sorge um das Seelenheil fristet bei der Mehrzahl der heutigen Christen ein Schattendasein. Gerade aus diesem Grunde werden uns von den Beherrschern dieser finsteren Welt (Eph. 6: 12) zahlreiche Sorgen und Ängste aus dem sozial-politischen oder privaten Bereich quasi als Köder vorgeworfen, damit wir bloß nicht an die Erlangung der himmlischen Seligkeit denken. Ich sage euch und beschwöre euch im Herrn: Lebt nicht mehr wie die Heiden in ihrem nichtigen Denken! Ihr Sinn ist verfinstert. Sie sind dem Leben, das Gott schenkt, entfremdet durch die Unwissenheit, in der sie befangen sind, und durch die Verhärtung ihres Herzens (Eph. 4: 18). Nach der endgültigen Christianisierung des Römischen Reiches unter Kaiser Theodosius dem Großen (379-94) wurde das Christentum zur Staatsreligion. Auch wenn der Staat für weltliche Belange zuständig war und die Kirche für geistliche - oberstes Ziel der Staatsmacht (!) war hinfort die Erlangung des Seelenheils seiner Bürger. Dieses Modell der Symphonie von Kirche und Staat unter dem Banner des Doppeladlers wurde nach dem Untergang des Römischen Reiches vom Russischen Reich übernommen und dort bis 1917 aufrechterhalten. Ununterbrochen praktiziert wird diese Philosophie auch heute noch auf einer kleinen Halbinsel in der Ägäis, die auf ihre ganz besondere Weise wie ein „gallisches Dorf“ anmutet. Hier das Leben in Christo – draußen das Leben nach den Gesetzen und Regeln dieser Welt. Keine Angst, ich werde hier nicht dafür plädieren, einen Gottesstaat auszurufen. Aber ein weltoffenes, tolerantes Gesellschaftsmodell steht doch nicht im Widerspruch zur Festigung der authentischen moralischen und geistigen Werte der hier beheimateten und tief verwurzelten Kultur. Ein entkerntes Christentum, für das ein ent-christlichtes Weihnachtsfest sinnbildlich ist, kann jedenfalls nicht den Leitfaden bilden im Dialog mit anderen Kulturen und Weltanschauungen. Wenn es z.B. Theologen*innen aus der Fraktion für ein undogmatisches Christentum gibt, welche die biblische Überlieferung von der Geburt Christi öffentlich als „Glaubensmärchen“ abtun, vermisse ich zumindest eine klare Distanzierung, wenn nicht eine konsequente Ausgrenzung seitens der kirchlichen Obrigkeit und des Kirchenvolks. So aber zeugt diese scheinbare Toleranz davon, dass Glaubensinhalte in unserem Leben, gelinde gesagt, keinen sehr hohen Stellenwert haben. Dabei hat das Christentum im Abendland so viel zu bieten. Aber damit andere die Schönheit und spirituelle Tiefe der christlichen Kultur erkennen, müssen wir sie selbst für uns wiederentdecken und diese geistig-kulturellen Werte vorleben. Meinetwegen auch durch christlichen Rock, wie seit langem in den USA und seit kurzem auch in Russland. Es gibt viele, die eine resolute Lebensführung im Geiste des Evangeliums, wie z.B. Mönchtum oder Enthaltsamkeit vor der Ehe, als Fanatismus oder Bewusstseinsstörung diskreditieren. Aber nur ein Leben mit dem obersten Ziel der Erlangung des Seelenheils ist ein Leben nach dem Glauben!.. Alles andere – wie lauwarmes und säkularisiertes Christentum – stellt in Wirklichkeit eine missbräuchliche Perversion des Glaubens dar. Wenn ich an Gott und an die von Ihm verheißenen Güter glaube, wenn ich die Ankündigung des jüngsten Gerichtes wirklich ernst nehme, dann werde ich doch mein irdisches Leben so ausrichten, dass alles dem Seelenheil unterstellt ist. Ich habe alles dazu, was ich brauche. Orientierung bietet mir die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche. Und da ich diesen Weg nicht mit der notwendigen Konsequenz beschreite, kann ich als Christ nicht umhin, mich als großen Sünder zu sehen. Ich bin ein Sünder, weil ich mich an der mir von Gott gegebenen Bestimmung vergehe. Meine sonstigen alltäglichen Verfehlungen sind Kinkerlitzchen dagegen. Für indifferente Gläubige stellen jegliche praktische Formen der Frömmigkeit eine Beschneidung ihrer individuellen Freiheit dar. Freiheit – und sei es die Freiheit vom göttlichen Willen – ist für sie das oberste Gut. Aber gerade vor diesem missbräuchlichen Gebrauch unserer gottgegebenen Freiheit warnt uns das Gleichnis von verlorenen Sohn in seiner Ganzheit. Und der Apostel Paulus fügt hinzu: Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! Denn das ganze Gesetz ist ist in dem einen Wort zusammengefasst: du sollt deinen Nächsten lieben wie dich selbst! (Gal. 5: 13-14). Aber, das dürfte doch aus diesem Kontext ersichtlich sein, diese Liebe ist im Sinne des Evangeliums keine bloß emotionale natürliche Regung, sondern eine Liebe in Christo, die auf geistlicher Ebene zum Tragen kommt. Konkret heißt das, dass sich die Nächstenliebe zuallererst in der Sorge um das Seelenheil der Mitmenschen manifestiert. Der Zeitgeist toleriert heute zwar ein karitatives Christentum, aber keines, das sich in Erfüllung seiner Kernkompetenz – des Seelenheils – auch in die gesellschaftlichen Prozesse einbringt. In der Sowjetunion war die Freiheit der Religionsausübung zwar verfassungsmäßig garantiert, was de facto bedeutete, dass nur das „Abhalten kultischer Handlungen“ (Gottesdienste, Taufen, Trauungen, Begräbnisse etc.) unter strengen Auflagen und begleitet von Repressalien in der Schule, am Studien- oder Arbeitsplatz geduldet wurde. Eine Unterweisung in Glaubensfragen galt in der offiziellen Sprachregelung als „religiöse Propaganda“ und war, anders als die staatlich geförderte anti-religiöse Propaganda, verboten. Heute genießen wir zwar die Glaubensfreiheit, aber ist sie so uneingeschränkt, wie uns glauben gemacht wird? Auch wenn wir heute bei uns keine politische Unterdrückung der Religionsfreiheit haben, gibt es einen gesellschaftlichen Druck auf die Christen, sich in allem dem Zeitgeist anzupassen. Unbequem sein ist nur für pseudo-intellektuelle selbsternannte Querdenker des linken Spektrums statthaft. Dabei hat sich doch seit den 68-ern die politische und gesellschaftliche Landkarte verändert. Seit der mit der Ho-Ho-Ho-chi-Minh-Bewegung der ersten Nachkriegsgeneration einhergehenden sexuellen Revolution gelten konservative Wertvorstellungen, die bis dahin den Mainstream ausmachten, als spießig. Auch wenn beim Thema sexuelle Moral von nach Luft schnaubenden Politiker*innen z.B. immer wieder betont wird, es gäbe bei uns Benachteiligungen aufgrund sexueller Orientierung, wird in Wahrheit davon abgelenkt, dass christliche Werte schrittweise aus der Gesellschaft verbannt werden sollen, wobei ich mich beim Wort „schrittweise“ irgendwie an den Sirtaki aus dem Filmklassiker Alexis Sorbas erinnert fühle. Machen wir doch einmal die Probe aufs Exempel: verunglimpfen Sie heute im öffentlichen Raum Jesus Christus – dann haben Sie lediglich vom Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht; nicht mal die Christen hierzulande werden Ihnen das wahrnehmbar verübeln. Machen Sie hingegen einen Witz über gleichgeschlechtliche Lebensformen – schon werden Sie von allen Seiten als homophob und intolerant gebrandmarkt. Merken wir denn nicht, dass in Wahrheit der heutige Mainstream spießig geworden ist, und dass die wahren Christen wie zu allen Zeiten in der Rolle der Geächteten sind (2. Tim. 3: 12)?! Wollen wir uns denn tatsächlich mit einem staatlich anerkannten Christendasein zufriedengeben, das zwar in seiner äußeren Darstellungsweise immerzu auf gesellschaftliche Veränderungen pocht, jedoch völlig davon absieht, eine innere Umkehr in den Herzen der Menschen zu bewirken?! Kommt Ihnen das nicht irgendwie verdächtig vor, dass der Begriff „Sünde“ aus unserem Sprachgebrauch entweder komplett gestrichen oder bestenfalls als philologisch zweckentfremdete Kategorie vorkommt? Wir Christen haben Angst davor, den Finger in die Wunde zu legen! Von uns sagt der Herr doch: Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten. (Mt. 5: 13). Wollen wir von den Leuten zertreten werden?!.. Dabei müssen wir es liberal denkenden Politiker*innen, bei deren Auftritten auch Mikrophon-Attrappen in prall gefüllten Sälen schon ausreichen würden, nicht gleichtun. Wir sollen ja nicht kreischen, sondern bemüht sein, in aller Stille und Bescheidenheit ein Vorbild zu sein. Wir sollen uns nur nicht für jede sich anbahnende gesellschaftliche Veränderung anbiedern und nicht reflexartig im vorauseilenden Gehorsam unsere uneingeschränkte Anpassungsfähigkeit demonstrieren. Wir sind doch wirklich zu Höherem berufen: für uns Christen ist es von allerhöchster Notwendigkeit, uns darum zu kümmern, dass wir ein Leben nach der Gnade führen, selbst wenn uns das nur Spott und Verachtung von Außenstehenden einbringt. Denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben (Tit. 2: 12). Tun wir das nicht, laufen wir tatsächlich Gefahr, als Christen in diesem Lande zu Hause und doch weit weg zu sein. Amen.
Jahr:
2016
Orignalsprache:
Deutsch