Predigt zum 26. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 5: 8-19; Lk. 10: 25-37) (29.11.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

ein vermeintlich marginaler Aspekt aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter regt bei genauerem Hinsehen zu tiefgründigerem Nachdenken an. Die Frage der Nächstenliebe soll hier anhand nur eines, dafür aber aussagekräftigen Verses eingehend behandelt werden: „Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: ´Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme`“ (Lk. 8: 35). Welche Schlussfolgerungen können wir aus diesen wenigen Worten in Bezug auf Barmherzigkeit gegenüber Notleidenden ziehen?

1. Der barmherzige Samariter verbrachte die ganze Nacht mit ihm. Er hat also nicht bloß „erste Hilfe“ geleistet, wozu er moralisch und gesetzlich verpflichtet war, sondern er schenkte ihm darüber hinaus seine ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit. Auch seine Zeit war ja kostbar. Trotzdem opferte er einen ganzen Tag, um einem völlig unbekannten und zudem noch feindlich gesinnten Menschen zu helfen. Der Verwundete ist hier und jetzt uneingeschränkt „sein Nächster“ - ungeachtet fehlender familiärer, ethnischer, religiöser oder emotionaler Bande. Kurzum, er erfüllt die höchstmögliche moralische Norm der Feindesliebe, welche schon das Alte Testament wenigstens andeutungsweise kannte (vgl. Hiob 31: 29-30;  Spr. 24: 17-18; 25: 21-22), die vor allem jedoch im Neuen Testament zur vollen Entfaltung kommt (s. vor allem Mt. 5: 44;  Lk. 6: 35, aber auch Röm. 12: 20). Zeit ist besonders dann, wenn alle finanziellen, materiellen, technischen oder medizinischen Mittel erschöpft sind, das einzige, was man noch geben kann. Metropolit Anthony (Bloom, + 2004) diente als Regiments-Arzt im zweiten Weltkrieg und wurde folglich häufig mit dem Tode (bei Freund und Feind) konfrontiert. So war er für manch einen im Delirium befindlichen jungen Mann dessen „Mutter“, die dem Sterbenden die Hand hielt und ihn ein letztes Mal auf die Stirn küsste. Was konnte ein einzelner Arzt oder Sanitäter angesichts täglich dutzender von Sterbenden sonst noch tun? - Die begrenzten zeitlichen Ressourcen, und seien es auch nur wenige Minuten für jeden körperlich und seelisch Verstümmelten, nutze er so, dass er diese kurzen Momente restlos dem Leidenden widmete, also diesen Augenblick ganz mit dem Patienten war, ohne bei diesem das Gefühl aufkommen zu lassen, dass noch andere wichtige Aufgaben auf ihn warteten. Er tat das, was real möglich war! Und so müssen auch wir, wenn wir helfen, nicht bloß das tun, was zur Beruhigung des eigenen Gewissens beiträgt („Hier hast du etwas Geld, nun verschwinde aber!“), sondern was wir wirklich tun können. 

2. Gleichwohl lässt unser Samariter nicht alles stehen und liegen, um dem Notleidenden zu helfen, denn wie jeder Mensch hat er noch andere Verpflichtungen. Er hat die größte Not gelindert, den akuten Versorgungsbedarf gesichert, und wendet sich wieder seinen eigentlichen Aufgaben zu. Trotz seiner sonstigen Beanspruchung sagte er nicht: „Hierfür bin nicht ich zuständig“. Er handelte kurzfristig nach Gottes Gebot, ohne dabei seine langfristigen Aufgaben dauerhaft zu vernachlässigen. Zwei Denare sind kein Vermögen, ganz bestimmt nicht seine ganze Habe, denn die eigenen materiellen Bedürfnisse zu vergessen wäre töricht und sträflich z.B. gegenüber der eigenen Familie. Also gibt er so viel, wie nötig, um für die ersten Bedürfnisse aufzukommen, bis der Mann wieder selbst für sich sorgen kann. Als Anfang der 1990-er Jahre noch ganze LKW-Kolonnen mit humanitärer Hilfe aus Westeuropa in die sich in der Auflösung befindlich Sowjetunion fuhren, sagte ein russischer Priester zu seinen deutschen Helfern: „Schickt den Hungernden beim ersten Mal einen Fisch, beim zweiten Mal eine Angel“. Recht hatte er. Hilfe zur Selbsthilfe soll das Ziel sein.

3. Der Wohltäter begnügt sich nicht mit einmalig geleisteter Hilfe. Gott hat ihm diesen Menschen anvertraut, und er sorgt für ihn so gut er kann. Er stellt fürs erste die voraussichtlich notwendigen Mittel zur Verfügung, mit der Option, diese bei veränderter Bedarfslage aufzustocken. Hätte er mehr gegeben, wäre der Wirt ja womöglich auf dumme Gedanken gekommen... Behutsamkeit bei der Bereitstellung materieller Mittel für Bedürftige ist überdies ein Gebot der Vernunft, denn ein unbedacht üppig sprudelnder Geldsegen schwächt beim Empfänger das Bewusstsein der eigenen Verantwortung und vermindert die Achtung vor den für ihn aufgewendeten Mitteln („Der hat ja eh mehr als genug davon, da kann er mir ruhig etwas davon abgeben“). Und das ist kontraproduktiv! Wie behutsam, weise und uneigennützig geht also unser Samariter vor! Er macht sich wieder auf den Weg, noch bevor der Verwundete in der Lage ist, sich ihm gegenüber erkenntlich zu zeigen! Wahrscheinlich wird er nie erfahren, wer ihm in der größten Not beigestanden hat (vgl. Mt. 6: 1-2).

4. Für den Fall, dass die zur Verfügung gestellten Mittel nicht reichen, behält der Helfer sich die Option weiterer Hilfsmaßnahmen vor. Er geht auf dreierlei Weise vor: kurzfristig (Erstversorgung), mittelfristig (den absehbaren Bedarf sichern) und langfristig (Angebot weitergehender Unterstützung, falls notwendig). In der Zwischenzeit erledigt er all seine Geschäfte, um deren willen er ursprünglich aufgebrochen war. Er kommt also allen seinen Verpflichtungen nach: seiner eingeplanten Hauptaufgabe und seiner unvorhergesehenen „Nebentätigkeit“, für die er kurzfristig vom „himmlischen Arbeitgeber“ abgestellt worden ist. 

Zu guter Letzt wollen wir nicht vergessen: wir reden hier von Barmherzigkeit im Namen Christi, und die ist für uns alle doch ein Herzensbedürfnis. Es ist  allerdings keineswegs von Nachteil, wenn man dabei gelegentlich auch vom Verstand Gebrauch macht. Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch