Predigt zum 23. Herrentag nach Pfingsten (Eph. 2: 4-10; Lk. 16: 19-31) (08.11.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

das Thema unserer heutigen Homilie wird die Gnade Gottes sein. „Gott aber, Der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in Seiner großen Liebe, mit der Er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet“ (Eph. 2: 4-5). Gnade ist immer ein Geschenk Gottes, das dem Menschen ohne eigenes Zutun gewährt wird, denn „Er hat uns mit Christus auferweckt und uns zusammen mit Ihm einen Platz im Himmel gegeben. Dadurch, dass Er in Christus Jesus gütig an uns handelte, wollte Er den kommenden Zeiten den überfließenden Reichtum Seiner Gnade zeigen“ (4: 6-7). Allerdings hängt es vom Menschen selbst ab, ob er diese anfängliche Gnade dankbar und ehrfurchtsvoll annimmt und in sich vermehrt, oder ob er dieses Geschenk der Liebe Gottes verschmäht und missachtet, so dass es ihm keinerlei Nutzen bringt und sogar zum Nachteil gereicht. Gnade ist im engsten Sinne mit der Freiheit verbunden, die der Mensch als einziges verantwortungsbewusstes Geschöpf der sichtbaren Welt erhalten hat. Gnade und Freiheit – das ist die Kombination der Faktoren, aus denen der Mensch sein Seelenheil bestreiten kann. Ohne die Gnade Gottes gäbe es sowieso kein Heil, doch nur in der freien Willensausübung kann diese für den Menschen nutzbringend und heilsam sein. Das alles entscheidende Kriterium hierüber ist der Glaube bzw. die Standhaftigkeit und Aufrichtigkeit desselben: „Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt -, nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann“ (2: 8-9). Zwar ist Rettung aus eigener Kraft nicht möglich – sie bleibt immer ein Geschenk Gottes -, doch der Mensch entscheidet letztlich, ob er überhaupt gerettet werden will. Das kann er auch, wenn er sich bereit erklärt, etwas dafür zu tun. Nur muss er nicht denken, er könne sein Heil seinen guten Werken zuschreiben. Eine schon betagte Klosterfrau sprach einst zu ihren Beichtvater: „Batjuschka, ich spreche tagtäglich soundso viele Gebete, mache soundso viele Verbeugungen jede Nacht, halte alle Fastenzeiten ein und gehe zu allen Gottesdiensten – und das seit vielen Jahren. Ich muss doch gerettet werden!“ - „Und was ist, wenn dich jemand tadelt oder gar grob mit dir umspringt – reagierst du dann gekränkt, bist manchmal zornig?“ - „Ja, natürlich.“ - „Dann hast du bis jetzt noch nicht einmal den Anfang deiner Buße gemacht“. Mit anderen Worten, in all dieser äußeren Askese war sie wie ein Eichhörnchen, das sich ständig im Rad dreht und doch nicht von der Stelle kommt...

Werke der Frömmigkeit sind für sich genommen nicht heilbringend, wenn sie keine inneren Resultate zeitigen. Auch die weit verbreitet Ansicht, man sei schon ein guter Christ, wenn man kein schlechter Mensch ist, ist ein Trugschluss. Gerade davon handeln die Gleichnisse des Herrn, die wir in schöner Regelmäßigkeit in der Kirche vernehmen: Talente werden je nach persönlichen Fähigkeiten dazu verteilt, damit zu gegebener Zeit aus fünf zehn, aus zwei vier und aus einem wenigstens zwei werden; das Samenkorn wird gesät, damit es dreißig-, sechzig- oder hundertfachen Ertrag bringe; doch wer die ihm gewährte Gnade Gottes nicht vermehrt, hat nichts Gutes zu erwarten – wie der Reiche aus dem heutigen Gleichnis. Ihm wurde viel gegeben – Reichtum, einflussreiche Freunde, gute Gesundheit und genügend Zeit, um aus dieser Kombination an irdischen Gütern das Beste zu machen. Vor allem wurde ihm das Abbild Gottes (s. Spr. 17: 5) vor die Tür gestellt, dem er durch eine mickrige milde Gabe von seinem üppig gedeckten Tisch hätte helfen können. 

Von wem handelt dieses Gleichnis wirklich: von hedonistischen, unbarmherzigen Bonzen oder sind alle aufgefordert, über den eigenen Tellerrand zu schauen? - Ich bin jedenfalls weit davon entfernt, ein guter Christ zu sein. Die bereits erwähnte Nonne ist in ihrer Hingabe zu Gott für mich unerreichbar wie Alpha Centauri. Natürlich bemühe ich mich, wenigstens ein guter Mensch zu sein, was mir meistens auch gelingt – zumindest dann, wenn mich niemand stört, reizt, nervt oder während einer Fußballübertragung anruft. Sicherlich würde ich meine Anstrengungen, ein noch besserer Mensch zu werden verzehnfachen, wenn ich nur für einen Tag in der Lage eines der Menschen aus einem Krisengebiet dieser Welt oder auch eines Trost Suchenden  aus meiner näheren Umgebung sein könnte. Jetzt schicke ich mich aber noch nicht an, die Perspektive des armen Lazarus einzunehmen, denn mir geht es ja gut. Wenn uns allerdings diese andere Sichtweise von Gott im Jenseits offenbart wird (s. Lk. 16: 25), wird es schon zu spät sein. Es geht aber nicht nur um die Linderung materieller Not; die auch, aber nicht nur. Was ist denn das Teuerste, was wir haben? - Richtig: der aus Gnade rettende Glauben (s. Eph. 2: 8)! Wenn wir das Gleichnis auf die geistliche Ebene (also das Seelenheil betreffend) projizieren, sollten wir uns die Frage stellen, ob wir alles getan haben, damit wenigstens unsere nächsten Angehörigen zum Glauben an Christus gelangen. Ich habe schon Eltern erlebt, die ihre Kinder nicht tauften, sondern sagten: „Wenn sie erwachsen sind, sollen sie selber entscheiden, ob und wie sie an Gott glauben wollen bzw. welcher Religion sie angehören wollen“ (kein Kommentar!). Der reiche Mann erkannte seine Verantwortung für das Seelenheil seiner Verwandten (s. Lk. 16: 27-28) erst dann, als es für ihn schon zu spät war. Für uns ist es jetzt noch nicht zu spät. Fraglich ist nur, ob wir noch imstande sein werden, empfänglich für die mahnenden Worte des wahrhaftig von den Toten Auferstandenen zu sein (s. 16: 31) und die einzig richtige Schlussfolgerung bezüglich unserer noch verbleibenden Lebenszeit zu ziehen. Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch