Predigt zum 20. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 1: 11-19; Lk. 6: 31-36) (18.10.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

die heutige Lesung aus dem Evangelium zeigt uns in wenigen Worten die ganze Bandbreite des von Gott geforderten moralischen Anforderungsprofils an die Menschen. Es beginnt mit der sog. goldenen Regel: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“ (Lk. 6: 31). Dieses Verhaltensmuster drückt nicht die Spitze der moralischen Vollkommenheit aus, es entstammt auch gar nicht originär der Bibel, sondern gilt als allgemein anerkannte Grundlage für die Erfüllung einer jeden religiösen und säkularen Ethiknorm (s. Kants kategorischer Imperativ). Aus gutem Grund hat diese Norm auch im Christentum ihren Platz, denn man kann nicht guter Christ sein, ohne vorher ein guter Mensch geworden zu sein: z.B. Kopftuch & Maxikleid bis zum Knöchel inkl. Gebetsschnur von der Länge eines Lassos tragen, aber zugleich seinen Mitmenschen verachten. Jedenfalls ist diese elementare Verhaltensregel für jedermann einleuchtend und in sich schlüssig. Dieser erste Schritt dient zur Abgrenzung von der Bosheit, er beinhaltet jedoch noch keine Opferbereitschaft, sondern lediglich ein adäquates und ausschließlich nach äußeren Kriterien ausgerichtetes Agieren und Reagieren in allen erdenklichen Lebensumständen. Dieser sittliche Mindeststandard ist demnach von der schlichten Einsicht geprägt: „Wie du mir, so ich dir“ oder: „Wie man in den Wald ruft, so schallt es aus dem Wald wieder heraus“. Klar ist: ohne diese goldene Regel kann es keinen ethischen Verhaltenscodex geben! Religiöse oder humanistische Wertesysteme, welche diese Regel umgehen und missachten, können sich dabei weder auf göttliches noch auf menschliches Recht berufen. 

All das spielt sich aber lediglich noch auf der Ebene des Verstandes ab. Bei der nächsten Stufe der Vervollkommnung des Menschen geht der Herr zunächst ebenfalls nach den Regeln der menschlichen Logik vor, nun jedoch schon, um die Herzen der Menschen zu erreichen: „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder“ (6: 32-34). Hier können wir durchaus schon von dezidiert moralischem Denken, Fühlen und Handeln sprechen. Das ist schon ein ernsthafter Lackmus-Test: wer von uns tut denen Gutes, die ihm Böses tun? Wer von uns liebt die, welche ihn hassen? … Oh je.

 

Uns dürfte jetzt klar sein, dass der Herr von uns weit mehr als bloß „menschliches“ Verhalten erwartet. Deshalb folgt nun quasi als Sahnehäubchen das, was nur Christus lehrt, was unseren Glauben einmalig macht und ihn über jeden anderen religiösen oder weltlichen Wertekanon erhebt: „Ihr aber sollt eure Feinde lieben“ (6: 35). Erhabeneres ist niemals gesprochen worden! - Nun sei aber trotzdem die Frage gestattet: wie kann man denn seine Feinde lieben? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ist das überhaupt möglich?..

Genau hier sind wir an dem Punkt angelangt, zu dem uns der Herr letztlich hinführen will. In all unserem Denken gehen wir doch von der gefallenen menschlichen Natur aus und rechtfertigen so allzu leicht unser Fehlverhalten. Kein Wunder, denn die humanistische Weltanschauung (im übrigen auch alle anderen Religionen) setzt diese für ihr liberales „Wertesystem“ voraus – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Unter der Prämisse der durch die Sünde erkrankten Natur als „Normalzustand“ sehen alle anderen Religionen und Weltanschauungen ihr Heil in der Veränderung der äußeren Bedingungen bzw. in einer wie auch immer gearteten Flucht aus der Realität, nicht aber in der tatsächlichen Gesundung des Menschen. Aber das Neue Testament lehrt uns die Überwindung des „alten Menschen“ zur Erlangung des erneuerten Zustandes in Christus (s. Röm. 6: 6-14;  Eph. 4: 17-24;  Kol. 3: 9-10). Der „alte Mensch“ verurteilt im Herzen einen Sünder, während der „neue Mensch“ sich selbst nicht der Früchte seiner Buße berauben möchte und eingedenk des Jüngsten Gerichts nur an seine eigenen Sünden denkt. Der „alte Mensch“ neidet anderen Erfolg und Wohlergehen, während der „neue Mensch“ sich mit ihm freut und Gott für Seine Gnade dankt. Der „alte Mensch“ reagiert gereizt auf konstruktive Kritik, während der „neue Mensch“ sich auch für harsche Zurechtweisung und sogar Schmähung dankbar erweist. Kurzum, so ein erneuerter Zustand der Gnade und der Freiheit (von Sünde und Leidenschaft) ist nicht zu erreichen, wenn einem komplett die himmlische Komponente abgeht. Uns allen ist ja ein untrügliches Kontrollorgan zur Feststellung unserer Himmelbezogenheit gegeben: das Gebet des Herrn (s. Mt. 6: 9-13). 

Mich amüsiert immer die Aussage der 99% unserer Getauften, sie bräuchten nicht zur Kirche zu kommen, da sie zu Hause beteten. Auf die Frage, welche Gebete sie kennen, sagen sie immer: das „Vater unser“, das sie womöglich ein- oder zweimal am Tag aufsagen. Aber ist es damit schon getan?

Kann man Gott ernsthaft als Himmlischen Vater anrufen, wenn man mit Leib und Seele nur an der Erde haftet (vgl. Mt. 23: 9)? Wie soll der Name Gottes geheiligt werden, wenn unser ganzes Sinnen auf die Selbstbestätigung des Menschen ausgerichtet ist? Wozu soll das Reich Gottes noch kommen, wenn wir zeit unseres Lebens nur dem irdischen Glück nachjagen? Wie soll der Wille Gottes geschehen, wenn unsere ganze Frömmigkeit (und zwar der praktizierenden und der nicht praktizierenden Christen gleichermaßen) auf die Erfüllung des menschlichen Willens abzielt? Wie können wir von Gott das irdische Brot einfordern, wenn uns nichts am himmlischen Brot der Eucharistie liegt? Wie kann man sich die Vergebung der Schulden von Gott erbitten, wenn man seine Sünden nicht im eigens von Christus geschaffenen Mysterium der Beichte bereut (s. Joh. 20: 22-23) und selbst nicht bereit ist, anderen ihre Schuld zu vergeben (s. Mt. 6: 14)? Wie kann man darum bitten, vor Versuchung bewahrt zu werden, wenn man sich gar nicht bemüht, nach dem Geist Christi zu leben, um so den sündigen Leidenschaften widerstehen zu können (s. Röm. 8: 1-17)? Und wie kann man Gott schließlich um Erlösung von dem Bösen bitten, wenn man sich selbst in keinster Weise damit auseinandersetzt, was in den Augen Gottes Gut und Böse ist (s. Röm. 7: 7-25;  Jak. 4: 4;  1. Joh. 2: 15;  5: 19;  1. Kor. 2: 15 u.v.m.)?

Aus der heutigen Lesung ist jedenfalls ersichtlich, dass Gott bei Seinem Bemühen, uns von der irdischen in die himmlische Sphäre zu versetzen, durchaus auf die uns innewohnende Schwäche eingeht. Zunächst sollen wir nach Maßgabe unserer eigenen Möglichkeiten (Verstand, Wille) das Gesetz erfüllen, um uns dann als Teilhaber der Gnade des Gottmenschen Jesus Christus über die (gefallene) menschliche Natur hinwegsetzen. Wenn wir also im Herzen erkennen, dass Gott unser Vater ist, werden uns alle Menschen Brüder und Schwestern sein. Und dann bleibt nur noch ein Schritt, den der Prophet David poetisch-mystisch in diese Worte kleidet: „Abgrund ruft den Abgrund mit der Stimme Deiner Wasserfälle, alle Deine Wellen und Deine Wogen gingen über mich dahin. Am Tag wird der Herr Sein Erbarmen entbieten, und nachts ist Sein Lied bei mir, ein Gebet zum Gott meines Lebens“ (Ps. 41: 8-9). Der unergründliche Abgrund göttlicher Gnade ruft einen Abgrund der Gnadengaben im Geiste des Gott zugewandten Menschen hervor! Es ist das, was Spiritualität per se ausmacht: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer Himmlischer Vater ist“ (Mt. 5: 48). Wer das beherzigt, wird auch seine Feinde lieben können. Amen. 

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch