Predigt zum 15. Herrentag nach Pfingsten (2. Kor. 4: 6-15; Mt. 22: 35-46) (13.09.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

heute beobachten wir in der uns angebotenen Lesung, wie ein Gesetzeslehrer von den Pharisäern unseren Herrn auf die Probe stellen will. Zuvor versuchten es die Pharisäer mit der Frage nach der kaiserlichen Steuer (s. Mt. 22: 15-22) und die Sadduzäer mit der Frage nach der Auferstehung der Toten (22: 23-34). Wie später im Laufe der Kirchengeschichte bietet sich hier durch Polemik die Möglichkeit, die Wahrheit vom Reich Gottes zu verkünden. Ohne erbitterte Auseinandersetzungen mit den Gegnern hätte niemals eine solch überragende Theologie entstehen können, wie sie uns im „goldenen Zeitalter“ des vierten oder im „silbernen Zeitalter“ des siebten und achten Jahrhunderts geschenkt worden war. Die Angriffe der Feinde der Orthodoxie erzwangen die Verteidigung von Glaubenswahrheiten, wodurch auch wir heute erkennen mögen, dass die Aufgabe der Kirche (also von uns allen) darin besteht, in der Nachfolge Christi Zeugnis von der Wahrheit abzulegen. Es kann ja durchaus sein, dass dieses furchtlose Bekenntnis zur Wahrheit schon bald von jedem von uns verlangt werden wird. Die Frage nach dem wichtigsten Gebot bewirkt im vorliegenden Falle jedenfalls, dass unser Herr in die Offensive übergeht und die Schriftgelehrten als der Schriften Unkundige entlarvt. Aber alles der Reihe nach.

Die Pharisäer stritten endlos untereinander darüber, welches der 613 Gebote aus dem Gesetz das wichtigste sei. Sie sahen sich und andere in der Pflicht, durch penibles Erfüllen aller Vorgaben dem Gerechtigkeitsanspruch des Gesetzes Genüge zu leisten. Von einem von ihnen nun auf die Probe gestellt, nennt der Herr zunächst das Gebot, welches über allem steht: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken“ (Mt. 22: 22: 37; vgl. Dtn. 6: 5). Kaum einer würde hier widersprechen wollen. Zur Überraschung Seiner Opponenten nennt der Herr aber noch ein zweites Gebot, das ebenso wichtig ist: „Du sollst deinen nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt. 22: 39; vgl. Lev. 19: 18). Diese Botschaft ist an die gerichtet, welche nur den Buchstaben des Gesetzes befolgen: ohne Nächstenliebe ist auch Gottes Gesetz nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben ist. Beide Gebote sind zusammen gewissermaßen das Herzstück des Alten Bundes, weil ohne sie das Gesetz und die Propheten bloß Makulatur wären. Und der mit dem Blut des Lammes Gottes gegründete Neue Bund sagt auch nichts anderes (s. 1. Kor. 13: 1-13  und  1. Joh. 2: 7-11; 3: 11-18; 4: 7-21). 

Durch das Benennen der beiden Gebote, an denen „das ganze Gesetz samt den Propheten“ hängt (Mt. 22: 40) will uns der Herr, einerseits, davor bewahren, in unserem geistlichen Leben ausschließlich „Dienst nach Vorschrift“ zu machen: Gebetsregeln, Fastenzeiten, sakramentale und rituelle „Vorschriften“ rein äußerlich, aus Tradition oder aus Gepflogenheit einzuhalten und, andererseits, - davor behüten, alle äußeren Regeln völlig außer acht zu lassen. Regeln und Vorschriften sind in allen Lebensbereichen notwendig und sinnvoll (z.B. im Straßenverkehr), auch wenn ihre Befolgung nicht Ziel an sich ist, sondern einem übergeordneten Zweck dienen soll (z.B. der Sicherheit auf den Straßen und dem geregelten Verkehrsfluss). Soviel steht fest: man kann im geistlichen Leben in Bezug auf die Treue zu Gott (alles andere ist pseudospiritueller Ego-Trip) zwar eine Hülle ohne Inhalt haben, aber keinen Inhalt ohne Hülle. Wenn ich im Laden einen Liter Milch oder ein Kilo Mehl kaufe, brauche ich auch eine Verpackung dazu. Die „Hülle“ im geistlichen Leben besteht immer aus Geboten – so war es von Anfang an (s. Gen. 2: 17). Aber worauf es jedes Mal ankommt, ist der Inhalt. Die Pharisäer tickten da aber anders. Für sie waren all die zahlreichen Gebote des Gesetzes untereinander praktisch gleichwertig und mussten allesamt penibel befolgt werden. Formgerechtigkeit galt als oberstes Prinzip, so dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sahen. Und so erkannten sie trotz ihrer Gelehrtheit nicht, dass der Messias nicht bloß ein Mensch war - „der Sohn Davids“ (Mt. 22: 42), sondern „der Herr“ - der Sohn Gottes (22: 45;  s. Ps. 109: 1). Keine Liebe – keine Wahrheit. 

Gebote und Vorschriften sind aber trotzdem notwendig. Ein braves Kind liebt seine Eltern und gehorcht ihnen gerne. Die Liebe äußert sich hier durch die Treue. Nicht anders ist es in der Ehe und ebenso, natürlich, im Verhältnis zu Gott. Doch gleichermaßen unerlässlich ist, dass sich diese Liebe auf alle Mitmenschen erstreckt. Sie ist unabdingbares Kriterium der Gottestreue, da ja jeder Mensch nach dem Abbild Gottes geschaffen ist. In der Nächstenliebe offenbart sich letztlich die Gottesliebe, „denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, Den er nicht sieht“ (1. Joh. 4: 20). Doch wie in der heute behandelten Auseinandersetzung mit den Pharisäern gesehen, muss Güte immer mit Wahrheit einhergehen: „Erbarmen und Wahrheit begegneten sich, Gerechtigkeit und Friede küssten sich“ (s. Ps. 84: 11). Das eine ohne das andere kann ontologisch nicht existieren: Wahrheit ohne Liebe ist Selbstgerechtigkeit, die zur Grausamkeit führt, und Liebe ohne Wahrheit ist Irrtum, der jeglicher Verführung Tür und Tor öffnet – und beides ist Gott zuwider. Darin besteht der Zusammenhang beider Hälften der heutigen Lesung! 

Das Festhalten an der göttlichen Wahrheit schützt vor dem Missbrauch menschlicher Güte, die sonst leicht zum Manipulationsobjekt wird - mit weitreichenden und heute noch gar nicht absehbaren Folgen. Jesus Christus ist absolute Wahrheit und vollkommene Liebe zugleich. In Ihm und mit Ihm sind wir also als teure und treue Glieder Seines mystischen Leibes trotz unserer menschlichen Schwäche auf der sicheren Seite: „Was ihr habt, das haltet fest, bis Ich komme“ (Offb. 2: 25), spricht der Herr. Amen.

Jahr:
2015
Orignalsprache:
Deutsch