Predigt zum Beginn der Fastenzeit vor dem Entschlafen der Theotokos / Umzug mit dem Kostbaren und Lebenspendenden Kreuz des Herrn (1. Kor. 1: 18-24; Joh. 19: 6-11, 13-20, 25-28, 30-35) (14.08.2015)
Liebe Brüder und Schwestern,
am Beginn der Fastenzeit vor dem Hochfest des Entschlafens der Gottesgebärerin steht jedes Mal der Festtag zu Ehren des Kreuzes des Herrn. In Konstantinopel gab es den Brauch, das von der hl. Helena in Jerusalem entdeckte Lebenspendende Kreuz des Herrn am Vorabend des 1. August in einer Prozession aus dem Kaiserpalast zu nehmen und feierlich durch die Stadt zu tragen, wobei üblicherweise viele Kranke von ihren Gebrechen geheilt wurden. Dies setzte sich bis zum Fest des Entschlafens der Mutter Gottes fort. Vor allem Brunnen und Quellen wurden gesegnet, um die Gläubigen in der heißen Jahreszeit vor Seuchen zu bewahren. Deshalb findet bis heute noch jedes Jahr eine Wasserweihe in den Kirchen statt und wird Honig – das Allheilmittel gegen Krankheiten – gesegnet. So viel zur Tradition des heutigen Festtags.
Der Anlass dieses Festes beruht aber ebenso auf einer Überlieferung. Als Adam im hohen Alter erkrankte, sandte Eva ihren Sohn Seth an den Ort, wo sich einstmals der Garten Eden befunden hatte, um aus den Samen vom Baum des Lebens (s. Gen. 2: 9; 3: 24) eine Heilmixtur herzustellen. Als Seth nun mit den Samen aus Pinie, Zypresse und Zeder zurückkehrte, war Adam aber bereits verstorben. Man begrub ihn und säte die Samen aus dem Garten Eden über seinem Grab aus. An dieser Stelle wuchs der Überlieferung nach der Baum, aus dem später das Kostbare Kreuz unserer Erlösung gezimmert worden ist. Deshalb auch die allseits übliche bildhafte Darstellung des Schädels Adams unterhalb des Kreuzes unseres Herrn mit der Abkürzung М.Л.Р.Б. (Место Лобное Рай Бысть = die Schädelstätte wurde zum Paradies).
Diese Überlieferung deutet darauf hin, dass der Garten, also die naturbelassene Umgebung, Ausgangspunkt und Sinnbild der ursprünglichen harmonischen Gemeinschaft zwischen Schöpfer und Schöpfung ist. Dieses Modell findet sich auch in der Jenseitsvorstellung z.B. des Islam wieder, ebenso, in abgewandelter Form, bei den nordamerikanischen Indianern („ewige Jagdgründe“) und den meisten Naturvölkern (bei den nordischen Völkern ist „Walhalla“ hingegen eine Säulenhalle mit Licht spendenden Fackeln und glühenden Kohlentöpfen, was aus Sicht der von der Natur nicht gerade verwöhnten Wikinger und Normannen vollkommen nachvollziehbar erscheint; für Wüstenbewohner jedoch gibt es nun mal nichts Angenehmeres, als die Vorstellung von einem Garten mit viel Wasser, Schatten spendenden Pflanzen und saftigen Früchten, dazu allerlei sinnlichen Vergnügungen). Und wenn sich einer unserer Zeitgenossen das Paradies in seiner Phantasie ausmalen wollte, dann würde es sicher ebenso einem solchen Ort der Wonne mit zwitschernden Vögeln, Schmetterlingen, duftenden Blumen und einem rauschenden Bach inmitten des Gartens ähneln.
Und doch ist der paradiesische Garten für uns Christen nur „Prototyp“, weit entfernt von der „Serienreife“. Der Mensch wurde in den Garten Eden im Zustand „Zero“ hineinversetzt, ohne Makel, aber noch unvollkommen. Wie eine unreife Frucht musste er erst durch ein tugendhaftes Leben in der Befolgung der göttlichen Ordnungen zur vollen Reife gelangen. Im Neuen Testament wird dies so ausgedrückt: „So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in Seiner vollendeten Gestalt darstellen“ (Eph. 4: 13).
Das Wasser (das wir heute weihen) erinnert zudem an die Taufe, die uns durch die Gnade des Heiligen Geistes in den paradiesischen Urzustand versetzt, damit wir durch die weiteren Mysterien der Kirche und durch ein Leben in Christo zur Vollendung gelangen. Sinnbild dieser Vollkommenheit ist im Neuen Testament die Stadt Gottes (s. Hebr. 13: 14), das „Neue Jerusalem“ (s. Offb. 21: 9 – 22: 5). Der Garten dient als Symbol des ohne menschliches Dazutun von Gott Gegebenen (das „Abbild“, s. Gen. 1: 26, 27), während die Stadt für das Bemühen der Menschen steht, in eigener schöpferischer Betätigung das Leben in perfekter Eintracht mit dem Schöpfer und den Mitmenschen (die „Ähnlichkeit“, s. Gen. 1: 26) zu gestalten: „Es wird nichts mehr geben, was der Fluch Gottes trifft. Der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt stehen, und Seine Knechte werden Ihm dienen. Sie werden Sein Angesicht schauen, und Sein Name ist auf ihre Stirn geschrieben. Es wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit“ (Offb. 22: 3-5). - Die Natur wird dann ihren Zweck erfüllt haben, es wird nunmehr alles von der Gnade und der Herrlichkeit Gottes erfüllt sein.
Bedauerlich ist nur, dass es „außerplanmäßig“ den Sündenfall gegeben hat, so dass die Wiederherstellung dieser Harmonie zwischen Himmel und Erde durch das Kreuz unseres Herrn erfolgen musste. Dieses Kreuz verehren wir heute zum Zeichen unserer Buße – so, wie sonst nur an zwei weiteren Festtagen im Jahr. Es weist uns den Weg in die „künftige Stadt“ (s. Hebr. 13: 14). Gleichzeitig gedenken wir an diesem Tag der Mutter des Herrn, Die als Unbefleckte zwar bei der Geburt des Herrn nicht leiden musste, dafür aber freiwillig als Makellose während Seiner Kreuzigung erduldete, wie ein Schwert Ihre Seele durchdrang (s. Lk. 2: 35). Dieses freiwillige und unschuldige Leiden machte Sie nun wiederum würdig, als einzige Erdgeborene nach Ihrem Entschlafen an Leib und Seele unversehrt in den Himmel emporgehoben zu werden. Ihrem demütigen Beispiel wollen wir ab heute nachahmen, um in zwei Wochen freudvoll Ihres seligen Heimgangs zu gedenken. Welch ein Trost wird das für uns alle sein, die wir doch alle dereinst ebenfalls denselben Weg antreten wollen! Amen.