Predigt zum 32. Herrentag nach Pfingsten (1. Tim. 4: 9-15; Lk. 19: 1-10) (02.02.2014)

Liebe Brüder und Schwestern,

 

jedes Jahr, wenn sich die positive Aufregung nach den großen Festtagen zu Weihnachten und Theophanie gerade erst gelegt hat, schickt uns die Kirche ein kleines Erinnerungssignal daran, dass in nicht allzu weiter Ferne bereits die Große Fastenzeit beginnen wird. Die Lesung von Zachäus, dessen Begegnung mit dem Herrn uns nur vom Evangelisten Lukas übermittelt wurde, weckt in mir ganz persönlich jedes Jahr melancholische Gefühle an meine Studienzeit im Priesterseminar, wo ich das erste Mal das Buch „Die Große Fastenzeit“ von Protopresbyter Alexander Schmemann las. Dieses Buch war für mich ein Türöffner zu meinem Glauben, den ich bis dahin natürlich in meinem Herzen trug, von dessen spiritueller Schönheit ich aber, wie sich bei der Lektüre des besagten Buches herausstellte, zuvor keinerlei Ahnung hatte.

Ich brauche dieses wunderbare Buch, das ich vor beinahe drei Jahrzehnten gelesen habe, gar nicht mehr aufzuschlagen, um mich an die Interpretation dieser Perikope im Teil über die Vorbereitungswochen zur Großen Fastenzeit zu entsinnen, wie der Oberzöllner Zachäus spontan auf einen Maulbeerbaum klettert, „um Jesus zu sehen, Der dort vorbeikommen musste“ (Lk. 19: 4). Vater Alexander preist dieses Ansinnen als Ausdruck des inneren Bestrebens, Christus nahe zu sein, an. Metropolit Anthony (Bloom) kommentiert sogar bildhaft, dass sich Zachäus, immerhin eine stadtbekannte Persönlichkeit, nicht darum schert, was die Leute beim Anblick eines erwachsenen Mannes, der auf einen Baum klettert, sagen oder denken werden – so groß ist sein Verlangen, wenigsten einen kurzen Blick von Jesus aus Nazareth zu erheischen. Wegen seiner geringen Körpergröße war ihm die Sicht durch die Menge versperrt...

Überhaupt soll uns die Rolle der Menge an diesem Tag, wenn auch beiläufig, etwas später beschäftigen.

Wie dem auch sei, Zachäus treibt bei seiner Annäherung zum Herr zunächst wohl bloß gewöhnliche Neugier an. Letzte Woche wurde vom Blinden aus der Nähe von Jericho gelesen (s. Lk. 18: 35), über dessen Heilung bei Lukas unmittelbar vor der Geschichte von Zachäus erzählt wird. Beide Verhaltensmuster weisen zwar auf eine vom Herzen kommende, aufrichtige Hinwendung zum Erlöser hin, die zunächst aber jeglicher spiritueller Dimension entbehrt. Für „Bartimäus, Sohn des Timäus“ (s. Mk. 10: 46) ist es nicht der Sohn Gottes, sondern „Jesus, Sohn Davids“ (Lk. 18: 38), Den er um Wiedererlangung des Augenlichts bittet (s. 18: 41); Zachäus, hingegen, „wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei“ (19: 3). Doch auch dieses, noch unvollkommene Bestreben wird in keinem der beiden Fälle verschmäht, sondern erwidert (s. Joh. 6: 37), weil sich die Empfänger der Gnade des Herrn ihrer im Nachhinein als würdig erweisen. Bartimäus wird wieder sehend, worauf er, voll des Dankes, Gott preist und Jesus nachfolgt (s. 18: 43). Noch größere Gnade erfährt Zachäus, obgleich der Herr an ihm kein offensichtliches Wunder vollbringt (ich bin fast geneigt zu sagen: kein „gewöhnliches“ Wunder, wie die Aufrichtung vom Kranken- oder Totenbett). Beim korrupten und geldgierigen Zöllner geschieht das „Wunder“ im Innersten seines Herzens: „Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück“ (19: 8). Das ist ein Musterexempel für Umkehr (griech. metanoia), ein Beispiel, dem wir alle nachzueifern berufen sind. Es ist eine Kehrtwende, die von nun an ein völlig anderes Leben zur Folge hat – ganz im Gegensatz zum hinlänglich bekannten Weitermachen im alten Trott nach jeder Beichte. Solch ein „Wunder“ sollen auch wir in Bezug auf uns selbst anstreben, anstatt nach einem Zeichen vom Himmel zu fragen (s. Mt. 12: 38;  Mk. 8: 11;  Lk. 11: 16), das unseren Glauben stärken könnte. Gott ist uns wirklich so nahe, dass wir nur den ersten, aber ernsthaften und entschlossenen Schritt tun müssen.

 

In beiden Fällen zu Jericho erfüllt sich im engen Kreis die mystische Prophezeiung: „Ich war zu erreichen gewesen für die, die nicht nach Mir fragten, Ich war zu finden gewesen für die, die nicht nach Mir suchten“ (Jes. 65: 2). Doch bevor sie Den fanden, nach Dem sie nicht suchten, mussten Bartimäus und Zachäus den Widerstand der Volksmenge durchbrechen. Bartimäus hatte wohl nur diese einmalige Gelegenheit, die nie mehr wieder kommen würde. Deshalb schrie er laut, damit der Herr ihn hören konnte. Als die Menge diesen Störenfried zum Schweigen bringen wollte, rief er aber noch lauter, bis sein Flehen erhört wurde. Zachäus, der klein von Gestalt war und wegen der Menschenmassen keine Sicht auf den Herrn hatte, ließ sich ebenfalls nicht von seinem Vorhaben abbringen. Und als der Herr zu ihm sagte: „Ich muss heute zu Gast in deinem Hause sein“ (19: 6), war er der glücklichste Mann in der Stadt, aber die Menge empörte sich und fing an zu Murren: „Er ist bei einem Sünder eingekehrt“ (19: 7). „Warum gerade dieser Kollaborateur? Gibt es denn keinen Würdigeren in der Stadt, als ihn?!“ Manch einen hätte aufgrund der Reaktion der Menge der Mut verlassen, doch Zachäus, von der Aussicht auf die Gnade des Herrn inspiriert, erkennt, dass dies alles nur erbärmliche menschliche Gedanken sind, auf die Gott immer eine Antwort weiß: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“ (Mt. 9: 13).

Dieses „Menschliche“ ist uns nur allzu gut bekannt: wenn etwas nicht nach unserem Willen geschieht, ist es natürlich ungerecht, dann neiden wir anderen den Erfolg; wenn das Glück es hingegen mal gut mit uns meint und wir uns plötzlich auf der Schokoladenseite wiederfinden, dann ist alles in bester Ordnung, denn wir haben es ja selbstverständlich vollauf verdient!... Dann sind halt die anderen grundlos neidisch. Sollen sie doch!

 

Als Kind erhielt ich mal eine kleine Papierikone unseres Herrn als Geschenk zum Namenstag. Auf der Rückseite war ein Gebet abgedruckt, das zwar von keinem Heiligen, dafür aber von einem frommen Laien stammte (Alexandr Solzhenitsyn). Ich erinnere mich noch heute an einen Satz, der sinngemäß wie folgt lautete: „Herr, ich danke Dir für alles Gute, das Du mir gegeben hast. Und wenn ich etwas nicht, wie von mir gewünscht, erhalten habe, danke ich Dir trotzdem dafür, dass Du es einem anderen gewährt hast!“ Mich beeindruckt diese Tiefe des Herzens dieser Anti-Egoismus-Pille durch die Einbeziehung der Sorgen anderer auch heute noch: „Wenn es mir nicht vergönnt ist, dann soll es der bekommen, der es nötiger hat als ich!“  Unser wichtigstes Gebet sprechen wir ja im Plural (s. Mt. 6: 9-13 und Lk. 11: 2-4)!..

 

Ich verstehe, dass man den einen oder anderen um irdische Dinge beneiden kann. Deswegen gibt es doch das zehnte Gebot (s. Ex. 20: 17). Wir sind, übrigens, von Gott eigens mit dieser besonderen „Fähigkeit“ ausgestattet worden, um im Hinblick auf die Nächstenliebe gleich dem Apostel Paulus der „Eifersucht Gottes“ (2. Kor. 11: 2) genüge zu leisten. Also obliegt es uns, diese natürliche Eigenschaft durch ein Leben in Christus wieder vom gefallenen Zustand der sündhaften Leidenschaft zu reinigen, gemäß den Worten der Schrift: Ahmt Gott nach als Seine geliebten Kinder, und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und Sich hingegeben hat als Gabe und als Opfer, das Gott gefällt“ (Eph. 5: 1-2). Und in Bezug auf die Standhaftigkeit des Glaubens fügt der Apostel hinzu: „Wir wünschen aber, dass jeder von euch im Blick auf den Reichtum unserer Hoffnung bis zum Ende den gleichen Eifer zeigt, damit ihr nicht müde werdet, sondern Nachahmer derer seid, die aufgrund ihres Glaubens und ihrer Ausdauer Erben der Verheißungen sind“ (Hebr. 6: 11-12). Solch ein Glauben ist, in der Tat, „beneidenswert“. Deshalb bietet uns die Kirche solche nachahmenswerten Muster für Bekehrung in der Vorbereitung zur Großen Fastenzeit an: Zachäus, den reuigen Zöllner im Tempel, den verlorenen Sohn. Das sollten auch die bedenken, die jetzt am Kirchenkiosk verstärkt nach Ikonen der heiligen Matrona von Moskau oder des heiligen Lukas von Simferopol fragen, weil sie im Kirchen-TV gesehen haben, dass diese Heiligen „besonders  hilfreich“ bei Krankheiten und irdischen Problemen sind. - Nein, nein und nochmals nein! - Heilige sind für uns Vorbilder, denen wir im Bestreben nach der Erlangung des Himmelreichs nacheifern sollen! Das aber ist nur möglich, wenn in uns ein Sinneswandel einsetzt, wie bei Zachäus. Alles andere ist Aberglaube, der nicht auch noch durch pseudo-kirchliche Waren-und Dienstleistungs-Mentalität befördert werden darf. Nicht dazu ist der Erlöser in die Welt gekommen (vgl. Mk. 1: 38  und  Lk. 4: 43).

 

Es gibt gleichwohl darüber hinaus auch den Neid in geistlichen Dingen, der Gott nicht gefällig ist, vor dem wir uns hüten sollten: Eifersüchteleien innerhalb einer Kirchengemeinde bzw. einer Klostergemeinschaft, Intrigen unter Altardienern oder Chormitgliedern, und, natürlich, die höchste Stufe der klerikalen Pandemien – die allezeit und allerorten um sich greifende Archimandritis (lat. Morbus archimandriticus), deren Symptome vor allem dann hervorstechend sind, wenn in Moskau der Heilige Synod zum Thema Bischofsweihen tagt. (:-

 

„Strebt aber nach den höheren Gnadengaben!“ (1. Kor. 12: 31a). Das wirklich Schöne und Wunderbare an der Suche nach dem Himmelreich und seiner Gerechtigkeit (s. Mt. 6: 33) ist ja, dass hier, im Gegensatz zu irdischen und weltlichen Dingen, kein Konkurrenzdenken, kein Futterneid entstehen kann. Materieller Reichtum ist ja nur „schön“, wenn viele andere arm sind; weltlichen Ruhm und Erfolg kann man nur „genießen“, wenn es daneben (bzw. darunter) noch möglichst zahlreiche Underdogs gibt. Um aber Gottes Gnade hier und im kommenden Äon zu erlangen, muss ich dagegen nicht meine Ellenbogen einsetzen: „Im Hause Meines Vaters gibt es viele Wohnungen“ (Joh. 14: 2) – es ist mehr als genug für alle da.

 

Von Gottes Seite gibt es keinerlei Hindernisse zur Erlangung des Seelenheils. Aber ohne Anstrengung gelangt man nicht an sein Ziel (s. Mt. 11: 12  und   Lk. 16: 16). Denn sobald sich der Mensch entscheidet, sein Kreuz auf sich zu nehmen und die Nachfolge des Herrn anzutreten, werden ihm die Mitmenschen den Weg dorthin versperren. An entsprechenden Beispielen mangelt es ja in unserer Russischen Kirche nicht. Aber es geht auch anders.

 

Eines Tages entschloss sich eine Prostituierte dazu, nach Beendigung ihrer Schicht in voller Montur in eine Kirche zu gehen, um dort für einen Eklat unter den Besuchern des gerade zu Ende gegangenen Gottesdienstes zu sorgen. Statt sich aber über die junge Frau aufzuregen oder sie den Anfeindungen der „Volksmenge“ zu überlassen, nahm sie der Priester am Ende der Liturgie beiseite und sprach einige Minuten in aller Ruhe mit ihr. Danach verließ sie weinend die Kirche. Am nächsten Sonntag erschien sie in geziemender Kleidung zum Gottesdienst und ließ sich kurz darauf taufen.

 

Anhand solcher Beispiele gibt es keine berechtigten Zweifel an der Gnade Gottes, die so wirkt, dass selbst die Gott finden, die Ihn nicht suchen – auch ohne Bekehrungsversuche unsererseits. „Wir haben unsere Hoffnung auf den lebendigen Gott gesetzt, den Retter aller Menschen, besonders der Gläubigen“  (1. Tim. 4: 9), lesen wir heute. Die Art und Weise, wie wir solchen Menschen begegnen, wird darüber Aufschluss geben, ob wir selbst schon die Lektionen verinnerlicht haben, die uns der Herr in den nun beginnenden Wochen der Vorbereitung auf die Große Fastenzeit darreicht. Amen.