Predigt zum Herrentag der Vorväter (Kol. 3: 4-11: 2; Lk. 14: 16-24) (29.12.2013)

Liebe Brüder und Schwestern,

 

der Herrentag der Vorväter, der jedes Jahr am vorletzten Sonntag vor dem Hochfest der Christgeburt begangen wird, ist dem Gedenken aller Heiligen des Alten Testamentes gewidmet. Die Geburt Christi war die Zeitenwende in der Geschichte der Welt, was auch im kirchlichen Kalender zum Ausdruck kommt.

Vor dem Weihnachtsfest gedenken wir

a) der alttestamentlichen Propheten zu den jeweiligen unbeweglichen Tagen (heute, am 16./29.12. ist z.B. das Gedächtnis des Propheten Haggai),

b) aller Heiligen des Alten Testamentes am Herrentag der Vorväter (also heute) – sowie

c) der direkten leiblichen Vorfahren Christi am Herrentag der Väter (am letzten Sonntag vor dem Fest).

Nach der Geburt Christi geht es liturgisch weiter mit

a) dem Gedenktag zu Ehren der Gottesgebärerin (Synaxis der Theotokos = zweiter Weihnachtstag), in den Tagen darauf feiern wir

b) das Gedächtnis der ersten Leidensdulder für Christus – der 14.000 Knaben von Bethlehem, die von Herodes getötet wurden, dazu

c) des ersten Martyrers der neutestamentlichen Ära – des Archidiakons Stephanos, und schließlich

d) am Sonntag nach Christi Geburt das Gedächtnis der leiblichen Verwandten des Herrn, die bei Seiner Geburt bzw. der Flucht nach Ägypten zugegen waren, nämlich Josephs, des „gesetzmäßigen Vaters“, des Herrenbruders Jakobus und König Davids, in dessen Stadt der Herr geboren wurde, aus dessen Haus Er stammte und dessen Segnungen prophetisch auf den Herrn Jesus und Dessen „Nachkommen“ übergingen.

 

Auch die für heute vorgeschriebenen Apostellesung macht uns deutlich, dass mit der Geburt Christi eine neue Zeitrechnung begonnen hat: „Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit. Darum tötet, was irdisch an euch ist: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die Habsucht, die ein Götzendienst ist. All das zieht den Zorn Gottes nach sich. Früher seid auch ihr darin gefangen gewesen und habt euer Leben davon beherrschen lassen. Jetzt aber sollt ihr das alles ablegen: Zorn, Wut und Bosheit; auch Lästerungen und Zoten sollen nicht mehr über eurer Lippen kommen. Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um Ihn zu erkennen. Wo das geschieht, gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles und in allen.“ (Kol. 3: 4-11).

  Im Taufritus wird fast wortwörtlich aus dem Kolosserbrief zitiert:  „...auf dass er/sie den alten Menschen ablege und zu einem neuen Menschen werde, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert ist“. Durch die Taufe werden wir somit neu geboren in Christus, aber auch Christus wird in uns geboren. Durch die Taufe werden wir zu Teilhabern der Menschwerdung Gottes, wenn wir das töten, was in uns irdisch ist, wenn wir den alten Menschen ablegen und zu einem neuen Menschen werden, erneuert nach dem Bild des Schöpfers.

Dazu ruft uns der Herr im heute vorgetragenen Gleichnis vom Festmahl (griech. dipnon; slaw. вечеря) auf, das für jedermann sichtbar auf die Umwandlung der menschlichen Natur in die göttliche durch das Abendmahl hindeutet. Aber die tatsächliche Praxis des Lebens vieler Christen orientiert sich nicht an den Maßgaben der Heiligen Schrift, sondern gleicht viel eher der Lebensweise des „alten Menschen“: „Wie ein Hund, der zurückkehrt zu dem, was er erbrochen hat, so ist ein Tor, der seine Dummheit wiederholt“ (Spr. 26: 11).

 

  Eigentlich ist doch am Gedenktag der Heiligen des Alten Bundes vordergründig vom Volk Israel die Rede, das von Gott als erstes berufen wurde, sich aber Seinem Ruf widersetzt hatte: „Keiner von denen, die eingeladen waren, wird an meinem Mahl teilnehmen“ (Lk. 14: 24). Wenn nun bei dem einen oder anderen die antisemitischen Gene hervorkommen, sollte er sogleich bedenken, dass das explizit Gesagte eines jeden Gleichnisses implizit auf unsere Zeit übertragen werden muss. Vor zweitausend Jahren war es die Mehrheit der Juden, die nur dem äußeren Anschein nach gottesfürchtig waren, heute sind es die, welche vorgeben, den wahren Glauben und alle Weisheit der Welt zu besitzen, aber in Wirklichkeit nach Irdischem streben.

  Mehrere Gleichnisse des Herrn haben oftmals den gleichen Leitfaden und einen gemeinsamen Grundgedanken. Wir sehen im selbstzufriedenen Reichen (s. Lk. 16: 19-31) die gleiche Sorglosigkeit, wie in den zum Festmahl Geladenen. Ihre Einstellung kann man so ausdrücken: „Wir gehören zum auserwählten Volk Gottes, das Himmelreich ist uns folglich sicher. Wollen wir uns folglich dem Irdischen zuwenden“. Deshalb die harschen Worte des Apostels: „Tötet, was irdisch an euch ist“ (Kol. 3: 5). Es ist auch so alles in Gottes allmächtiger Hand, denn Gott ist Herrscher über alles – nur unser Herz, das gehört allein uns. Wir können völlig ungezwungen entscheiden, wem wir es öffnen, und vor wem wir es verschließen. Gleichwohl buhlt Gott um unser Herz: „Gib Mir dein Herz, Mein Sohn, deine Augen mögen an Meinen Wegen gefallen finden“ (Spr. 23: 26).

 Wenn ich also „einen Acker gekauft“ (Lk. 14: 18), „fünf Ochsengespanne“ erworben (14: 19) oder „geheiratet“ habe (14: 20), und wenn dabei all diese Dinge mich von der lebendigen Gemeinschaft mit dem Himmlischen Bräutigam abhalten, kann ich mich selbst nicht wirklich als Mitglied der Kirche (der „Braut Christi“, s. Eph. 5: 21-33) betrachten.

 All diese Dinge sind wichtig – Arbeit und Lohnerwerb („Acker“), schöpferisches Gestalten und Selbstverwirklichung („fünf Ochsengespanne“ für die fünf Sinne) und vor allem die Familie und das persönliche Glück („Heirat“). Aber was sind sie wert ohne Gott?!..

  Neulich sah ich ein Plakat vor einer Kirche: „Weihnachten ohne Jesus Christus ist wie ein Leben ohne Sinn“. Besser kann man das nicht ausdrücken.

   Wenn wir aber mal ganz ehrlich sind, müssen wir doch eingestehen, dass wir, abgesehen von den notwendigen Dingen des Alltags – Broterwerb, Kultur, Familie – unverhältnismäßig viel Zeit, Energie und Geld für völlig belanglose Sachen verschwenden.

- Wie viele Stunden verbringen wir täglich vor dem Fernseher oder Computer – und wie viele Minuten im Gebet?!

- Wie viel Elan und Energie („Herzblut“) stecken wir in unsere Freizeitaktivitäten – und wie schwer fällt es uns, uns selbst und unsere Kinder sonntags gleichsam zu einer Strafexpedition  in die Kirche zu schleppen?!

- Wie viel Geld investieren wir in unwichtiges und sogar völlig nutzloses Zeug – und was ist uns, im Vergleich dazu, der Erhalt unserer Kirchengemeinde wert?!

  Gott erwartet keine sinnlosen und übermäßigen Opfer. Wer wenig verdient, kann nicht zwei- oder dreihundert Euro monatlich an die Kirche abgeben; wer viel Stress im Studium oder bei der Arbeit hat, kann nicht jeden Tag zwei Stunden in der Kirche verbringen; wer sich um seine kleinen Kinder kümmern muss, kann sich nicht mehrere Tage in der Woche in der Gemeinde engagieren. Aber wenn wir trotz eines schmalen Geldbeutels die finanziellen Mittel für einen Plasma-Fernseher, Designer-Mode und teure Kosmetika haben; wenn wir trotz knapp bemessener Freizeit stundenlang am Telefonhörer kleben und dazu noch die Muße für den obligatorischen Kaffeeklatsch finden; wenn wir trotz Beanspruchung durch die Familie diversen zeitintensiven Nebenbeschäftigungen frönen, dann sind unsere Ausreden „Bitte entschuldige mich“ (Lk. 14: 18, 19) vor Gott bar jeder Entschuldigung!

  Wir sind mit einem freien Willen, einem klaren Verstand und einem reinen Herzen ausgestattet, um in jeder Situation die richtige und Gott gefällige Entscheidung treffen zu können. Eine Mutter wird ihr krankes Kind nicht alleine zu Hause im Bett lassen, um am Sonntag in die Kirche zu gehen; ein Student wird vor einer schweren Prüfung kurzfristig wohl all seine geistige Kraft auf sein Studium verwenden, und nicht auf geistliche Dinge; ein unterwegs zur Kirche befindlicher Priester wird einem möglichen Unfallopfer gewiss nicht die notwendige Hilfe verweigern, um nur ja rechtzeitig die Liturgie beginnen zu können.

  Diese unvollkommene Welt unterscheidet sich durch Raum, Materie und Zeit von der vollkommenen. Unser Ziel muss sein, von der unvollkommenen Gemeinschaft mit Christus im Diesseits zur vollkommenen Gemeinschaft  mit dem Herrn im Jenseits zu gelangen. Doch die irdischen Versuchungen und Widerstände sind groß.

  Vor zwanzig Jahren verbrachte ich den Sommerurlaub mit meiner Familie in Holland. Die Ferienanlage befand sich auf einem Polder, also einem Stück Land, das dreißig Jahre zuvor noch Meeresboden war. Als wir mit dem Auto durch die völlig neuartigen Städte fuhren, fiel mir sofort auf, dass im Gegensatz zu den mittelalterlichen Städten des Festlandes etwas fehlte. Die Silhouette jeder europäischen Stadt wurde früher von Kirchtürmen geprägt, während der Dom noch heute immer den Mittelpunkt jeder historischen Altstadt bildet. In den Metropolen der Moderne sind Gotteshäuser, wenn, dann nur in Randbezirken und in architektonischer Kleinstausfertigung vorhanden, denn Gott hat keinen Raum in unserem heutigen Leben.

  In der Hauptstadt Rumäniens wird gegenwärtig mit staatlicher Unterstützung eine orthodoxe Kathedrale als Kompensation für dutzende zerstörte Kirchen errichtet. Kommentar in den westlichen Medien: dieses Geld fehlt nun für den Bau von Universitäten, Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern (vgl. dazu Joh. 12: 1-8). Dass Opern, Theater, Konzertsäle und Sportstätten aus staatlichen Geldern gebaut und unterhalten werden, scheint hingegen niemand in Frage zu stellen. Materielle Werte zählen heute eben mehr, als spirituelle.

  Es gibt heute so viele technische Errungenschaften, die das Leben bequemer, sicherer, angenehmer und vor allem schneller machen sollen. Und doch erweist es sich, dass uns, im Gegensatz zu unseren Vorfahren, die Zeit für alles fehlt, auch und vor allem für unser Seelenheil.

 

  Schon vor zweitausend Jahren gab es in Bethlehem bei uns Menschen weder einen Raum, noch materielle Zuwendung für Gott, Der in diese räumlich, materiell und zeitlich begrenzte Welt gekommen war, um sie zu erlösen. Technischer und sozialer Fortschritt haben das Leid in der Welt seither nicht vermindert, sondern nur vergrößert. Kriege, Krankheiten, Kriminalität, Korruption und Katastrophen jeder Art nehmen täglich zu und erreichen bisher unvorstellbare Dimensionen. Aber im Bezug auf die ewige Bestimmung des Menschen ist die größte Tragödie, dass der Mensch zu Gott sagt: „Bitte entschuldige mich, ich habe keine ZEIT für Dich“! Amen.

Jahr:
2013
Orignalsprache:
Deutsch