Predigt zum Herrntag vom Gelähmten (Apg. 9: 32-42; Joh. 5: 1-15) sowie zum Patronatsfest zu Ehren des seligen Isidor von Rostow und Brandenburg (26.05.2013)

Liebe Brüder und Schwestern,

 

jedes Jahr hören wir die Erzählung von dem Gelähmten am Schafstor in Jerusalem, der achtunddreißig Jahre lang darniederliegt und keinen Menschen hat, der ihn in dem Moment zum Teich Betesda trägt, in dem der Engel das Wasser zum Aufwallen bringt. Jedes Mal kommt ihm ein anderer zuvor.

Mein erster Gedanke ist dabei immer: wie können Menschen bei so offensichtlich reicher Gnade Gottes denn nur so herzlos, egoistisch und undankbar sein? Denn der Teich Betesda, zu dem fünf Säulenhallen gehören, steht symbolisch für die menschlichen Sinne, die durch die Gnade des Heiligen Geistes in der Taufe geheilt und in der Myronsalbung erleuchtet werden. Aber wie sooft gibt es auch im vorliegenden Fall keinen Widerhall in den Herzen der Menschen auf die angebotene Gnade Gottes.

Die im 5. Kapitel des Johannesevangeliums geschilderte Situation ist bei näherer Betrachtung eine Anklageschrift gegen alle Beteiligten. All die vielen Kranken, „darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte“ (Joh. 5: 3) denken nur an sich, so dass nicht der zuerst das Wasser erreicht, der es womöglich am nötigsten hätte, sondern höchstwahrscheinlich der, der am wenigsten körperlich behindert ist oder der, der im Gegensatz zu unserem Gelähmten genug Verwandte, Freunde oder Macht und Einfluss hat, so dass ihn im Moment des Aufwallens des Wassers jemand zum Teich tragen kann. Mit ein wenig Mitgefühl für die Schwächeren hätte man doch eine Art Warteliste nach Dauer und Schwere der Krankheit bzw. nach Grad der Behinderung erstellen können. Denkbar wäre zudem, dass sich die Geistlichkeit um die Erstellung und Einhaltung einer solchen kümmert. Doch über diese spricht der Herr: „Weh den Hirten Israels, die nur sich selbst weiden“ (Ez. 34: 2). Und so wird das Geschenk der Gnade Gottes nach den Grundsätzen der Ellenbogengesellschaft verteilt, und dies ist doch geradezu eine Perversion des göttlichen Heilsplans für uns Menschen. Es ist, sozusagen, ein Grundriss der Gesellschaft, zu der wir gehören, und der Welt in der wir leben: Gott sorgt für die Welt, denn es ist mehr als genug für alle da – und doch reicht es für so viele nicht zum Überleben.

Dabei weiß doch jeder, dass man gemeinsam stark ist: Zu zweit ist man stärker, als allein, im Schoß einer Familie oder Sippe fühlt man sich geborgen, und im Schutze einer starken Stammes- oder Volksgemeinschaft braucht man sich vor niemandem zu fürchten. Aber warum sollte es dann nicht möglich sein, eine solche Gemeinschaft zu haben, die alle durch ein gemeinsames, ungehindertes und uneingeschränktes Eintauchen ins lebendige Wasser einschließt und noch dazu Gott als Oberhaupt hat?!.. - Mir scheint, der vorliegende Evangeliumstext legt uns in dieser fünfzigtägigen Zeitreise zum Fest der Herabsendung des Heiligen Geistes auf mystische Weise die Alternative offen: wollen wir als Glieder der Kirche durch die wirksame Gnade des Heiligen Geistes zu Gottes Volk gehören oder nur formell eine Ansammlung von Individuen sein? - Wenn wir aber wirklich Kinder Gottes sein wollen, dann müssen wir einander als Brüder und Schwestern betrachten und wie eine Familie sein.

Wir sollten uns wahrlich der Tatsache bewusst sein, dass selbst durch den Empfang des Heiligen Geistes noch keine geistliche Einheit gewährleistet ist. Gewiss, Gott schüttet reichlich Seine Gnade über uns aus – aber was tun wir dafür?..

Der Mensch hat einen freien Willen und ist in seinen Bestrebungen ungezwungen – sowohl vor, als auch nach Empfang der Gnadengaben Gottes. So hat auch der nach achtundreißig Jahren Geheilte nichts besseres zu tun, als seinem Wohltäter Dessen Güte dadurch zu vergelten, dass er Ihn bei den Juden wegen der Heilung am Sabbat aus eigenem Antrieb anschwärzt (s. Joh. 5: 15-16) und Ihn dadurch neuen Verfolgungen aussetzt (ob nun aus Dummheit, Ahnungslosigkeit oder undankbarer Bosheit, sei mal dahingestellt). So handeln auch jene, die in der Taufe das Geschenk der Vergebung aller Sünden erhalten (vgl. 5: 14), aber statt von nun an ein tugendhaftes Leben in der Gemeinschaft mit Gott und den übrigen in Christus Getauften zu führen, in ihre alten Gewohnheiten verfallen. Jeder aber, der, ähnlich dem Gelähmten am Schafstor die Gnade Gottes empfängt, soll sich tunlichst davor hüten, damit ihm nicht „noch Schlimmeres zustößt“ (s. 5: 14) – und schlimmer als körperliches Leid ist nur die (ewige) Qual der Seele.

Der Apostel Paulus ruft alle Menschen dazu auf, ein Leben gemäß der in der Taufe erlangten Gnade zu führen, „denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben, während wir auf die Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Christus Jesus“ (Tit. 2: 11-13).

 

Durch die Taufe wurden wir zwar zu Nachfolgern Christi, aber damit enden unsere irdischen Sorgen und Nöte nicht. Umgekehrt, „werden alle, die in der Gemeinschaft mit Christus Jesus ein frommes Leben führen wollen, verfolgt werden“ (2 Tim. 3: 12). Wie wir gerade sahen, ist der Herr Selbst das beste Beispiel dafür. Und so sagt Er in Seiner Abschiedsrede zu den Jüngern: „Wenn sie Mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Joh. 15: 20).

Wenn wir auf unsere heutigen Lebensumstände schauen, können wir hingegen voll des Dankes feststellen, dass wir (bislang) keinerlei Verfolgungen ausgesetzt sind – im Gegensatz zu unseren Glaubensbrüdern und -schwestern in anderen Teilen der Welt. Durch Raum und Zeit sind wir weit getrennt von den Schicksalen der uns bekannten Martyrer und Bekenner. Wenn wir aber an unseren Gemeindepatron, den seligen Isidor oder zahlreiche andere „Narren um Christi willen“ denken, so stellen wir fest, dass diese – sei es in Byzanz, in Russland oder sonstwo – zu einer Zeit lebten, in der der orthodoxe Glauben Staatsreligion war und das gesellschaftliche, familiäre und individuelle Leben von kirchlichen Normen geprägt war. Dennoch sahen sich besagte Heilige ständigen Anfeindungen seitens ihrer „frommen“ Zeitgenossen ausgesetzt.

Nicht umsonst stellt die Kirche den Dienst der „Narren in Christo“ sogar höher als den der Martyrer und Leidensdulder. Diese litten ja für Christus, als die Zeit für sie gekommen war, weil die Umstände es erforderten, den Glauben offen zu bekennen. Sie wurden dadurch zu Helden und Vorbildern für andere, während die Narren in Christo sich freiwillig als „der Abschaum der Welt“ (1 Kor. 4: 13) dem ständigen Martyrium durch Hohn und Spott, Verachtung und nicht selten physische Gewalt aussetzten, und darüber hinaus unter unvorstellbaren Bedingungen lebten, denn sie „haben Spott und Schläge erduldet, ja sogar Ketten und Kerker. Gesteinigt wurden sie, verbrannt, zersägt, mit dem Schwert umgebracht; sie zogen in Schafspelzen und Ziegenfellen umher, notleidend, bedrängt, misshandelt. Sie, deren die Welt nicht wert war, irrten umher in Wüsten und Gebirgen, in den Höhlen und Schluchten des Landes“ (Hebr. 11: 36-39).

Heilige, wie unser deutsch-russischer Landsmann Isidor von Rostow und Brandenburg sind keine Warnung an die Außenstehenden, sondern sie stellen uns, den „rechtgläubigen“ Christen ein ernüchterndes Armutszeugnis aus. Gewissermaßen halten sie uns den Spiegel vor. Denn was bei uns Christen passiert, ist oftmals der Kirche Christi als Gemeinschaft der Heiligen nicht würdig. Wir alle beklagen uns über die Mächtigen dieser Welt, machen diese für Kriege, Hungersnöte, soziale Misstände und Gewaltexzesse verantwortlich; dabei sind wir selbst oftmals nicht in der Lage bei uns im Kleinen – in Familie, Kirchengemeinde, Nachbarschaft, in der Schulklasse oder im Arbeitskollektiv „ein ruhiges und stilles Leben“ (Fürbitte aus der Bitt-Ektenie) zu führen. Und obwohl wir bei uns rein äußerlich nahezu ideale Bedingungen für ein Leben in „Frömmigkeit und Lauterkeit“ (ebd.) vorfinden, hält sich unsere Dankbarkeit Gott und den politisch Verantwortlichen gegenüber in Grenzen. Denn da, wo es uns Orthodoxen in der Vergangenheit und in der Gegenwart gut ging, musste immer zwangsläufig der Prozess der Selbstzerfleischung einsetzen, so dass jegliches auf dem Fundament des christlichen Glaubens gegründete Staatsgebilde jedesmal zusammenbrach. Hat man mal keinen äußeren Feind, sucht man sich ihn eben im Inneren.

Aus diesem Grund sind mir Menschen, die „der guten alten Zeit“ nachtrauern und mit aller Macht die Monarchie in Russland wieder einführen wollen, suspekt; als ob man alle Probleme durch die Änderung des politischen Systems bzw. der Staatsideologie in den Griff bekommen könnte! Natürlich verdient es jede aufrichtig vertretene politische Einstellung zunächst, respektiert zu werden, aber wenn der orthodoxe Glaube instrumentalisiert bzw. durch Fremdenhass und Verunglimpfung Andersdenkender pervertiert wird, müssen wir als Christen eine klare Trennlinie ziehen.

Freilich klingt der Gedanke verlockend: haben wir erst einmal einen orthodoxen Zaren, wird dieser schon für Ordnung sorgen, so dass alle kirchlichen Spaltungen aufhören werden. Bei allem Respekt für integre orthodoxe Traditionalisten, sehe ich dies nur als zweitbeste, suboptimale Variante, denn der Herr sprach schon zum Propheten Samuel, als die Israeliten einen König forderten: „Nicht dich haben sie verworfen, sondern Mich haben sie verworfen: Ich soll nicht mehr ihr König sein“ (1 Kön. 8: 8). Die beste und optimale Variante wäre doch, wenn wir alle so lebten, wie es die Schrift lehrt: „Strebt voll Eifer nach Frieden mit allen und nach der Heiligung, ohne die keiner den Herrn sehen wird. Seht zu, dass niemand die Gnade Gottes verscherzt, dass keine bittere Wurzel wächst und Schaden stiftet und durch sie alle vergiftet werden“ (Hebr. 12: 14-15). Welche äußeren Bedingungen herrschen ist doch zweitrangig, wenn „wir ein unerschütterliches Reich empfangen, und (…) Gott so dienen, wie es Ihm gefällt, in ehrfürchtiger Scheu“ (12: 28).

Nach den bemerkenswerten Worten von Prof. Alexej Ossipov von der Moskauer Geistlichen Akademie suchen alle weltlichen ideologischen Systeme die Ursache für sämtliche globalen Probleme in den politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Gegebenheiten, während die Kirche seit zweitausend Jahren predigt, dass es der Mensch ist, welcher der Heilung bedarf. Davon kündet doch gerade unser heutiger Evangeliumstext, also muss sich daraus auch unsere kirchliche Zielsetzung ableiten.

Für unsere Widersacher muss es fürwahr eine Labsal sein, zu sehen, wie getaufte Christen sich nach außen hin als Hüter des Glaubens gebärden, während der Herr mit Blick auf ihre Herzen nur sagen kann: „der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo Er Sein Haupt hinlegen kann“ (Mt. 8: 20; Lk. 9: 58). Deswegen lässt es der Herr wohl geschehen, dass die Mehrheit der Menschen nichts von der Frohen Botschaft weiß, geschweige denn, wissen will, weil sie wohl sonst „keine Entschuldigung für ihre Sünde“ (Joh. 15: 22) hätten.

Damit wir aber als „Salz der Erde“ nicht „unseren Geschmack verlieren“, „weggeworfen und von den Leuten zertreten werden“ (Mt. 5: 13; vgl. Mk. 9: 50; Lk. 14: 34), wollen wir heute und an jedem Tag demütig die Gebete unseres himmlischen Fürsprechers erbitten. Mir ist es tausendmal lieber, wenn wir als kleine und unscheinbare Gemeinde in einem Kellergewölbe nach den Geboten des Evangeliums leben, als wenn wir unter goldenen Kuppeln beim Zusammenströmen riesiger Menschenmassen nur vorgeben, Christi Nachfolger zu sein, „denn unser Gott ist verzehrendes Feuer“ (Hebr. 12: 29). Amen.

Jahr:
2013
Orignalsprache:
Deutsch