Predigt zum Herrntag des Einzugs des Herrn in Jerusalem (Phil. 4: 4-9, 32; Joh. 12: 1-18) (28.04.2013)

„Gesegnet sei Er, Der kommt im Namen des Herrn.

Wir segnen euch vom Haus des Herrn her.

Gott, der Herr erleuchte uns.

Mit Zweigen in den Händen

schließt euch zusammen zum Reigen,

bis zu den Hörnern des Altars!“

(Ps. 117: 26-27)

 

Liebe Brüder und Schwestern,

 

der Einzug des Herrn in Jerusalem ist in gewisser Weise die Zuspitzung der soeben zu Ende gegangenen (eigentlichen) Fastenzeit, die ja in sich schon die „freudige Betrübnis“ bzw. die „betrübte Freude“ geradezu versinnbildlicht. Einerseits beweinten wir unsere Sünden, andererseits empfingen wir den Trost der Gnade Gottes in Erwartung der bevorstehenden Auferstehung. Und diese Ambivalenz zieht sich wie ein roter Faden auch durch die nun folgenden, bedeutungsvollsten Tage in der Geschichte der Menschheit.

Zunächst einmal ist heute ein Fest der Freude, wovon schon die externen Begleitumstände zeugen: eine riesige Menschenmenge empfängt den Herrn begeistert wie einen siegreichen Feldherrn, nachdem Er Lazarus von den Toten auferweckt hatte. Doch die äußeren Attribute dieses Triumphzuges können nicht über die grenzenlose Tragik dieses Momentes hinwegtäuschen, denn Christus kommt als „Lamm, das man zum Schlachten führt“ (Jes. 53: 7). Gleich nach Seiner Ankunft in der Stadt wird Er deshalb zur Ernüchterung Seines Gefolges sagen: „Amen, amen, Ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh. 12: 24). 

Nach den Kriterien dieser Welt ist Christus heute auf dem „Zenit“ angelangt. Doch wie bei so vielen historischen oder zeitgenössischen Persönlichkeiten, politischen Bewegungen, weltanschaulichen Systemen bis hin zu ganzen Imperien beginnt mit dem Erreichen des Höhepunkts auch hier der „Niedergang“, denn der Sohn Gottes kam ja in „diese“ Welt und wurde als ihr Schöpfer ein Teil von ihr, um Sich, gewissermaßen, ihren Gesetzen unterzuordnen. Doch Sein vorübergehender Niedergang in der vergänglichen Welt wird den endgültigen Sieg in der unvergänglichen Welt bewirken. Wir aber müssen uns nun entscheiden, zu welcher Welt wir gehören wollen, weshalb der Herr Sein Wort an uns richtet: „Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an Mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt“ (Joh. 12: 46).  

Folglich kommt es jetzt mehr denn je auf unseren Glauben an!

 

Wir alle sind wohl so gestrickt, dass wir das Licht nur „bemerken“, wenn es vorher lange dunkel gewesen ist. Deshalb musste das Licht der Welt aus dem Reich der Finsternis – dem Hades, erstrahlen, denn in letzter Konsequenz ist das Böse doch nur da, um vom Guten überwunden zu werden. Anders kann es auch gar nicht sein, denn Ersteres ist endlich, während Letzteres unendlich ist.

Heute erfüllt sich die Prophezeiung Gottes: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; Er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin“ (Sach. 9: 9). 

Er reitet nicht auf einem weißen Ross wie ein Heerführer, sondern demütig auf einem Esel; Seine „Soldaten“ sind einfache galiläische Fischer; Er kommt, um die Menschen gerecht zu machen und Er hilft Ihnen, denn Er ist „nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten“ (Joh. 12: 47).

Gott erweist den Menschen also Seine angekündigte Gnade. Aber wie reagieren die Menschen darauf? - Schon vorher, nach der erneuten wunderbaren Speisung der Volksmenge am See wollten sie Ihn mit Gewalt zum König machen, worauf Er Sich allein auf den Berg zurückzog (s. Joh. 6: 15). Kurz darauf wird Er in der Synagoge von Kafarnaum, wohin die Leute Seinetwegen wieder in Massen zusammenkommen, predigen und es auf den Punkt bringen: „Amen, amen. Ich sage euch: Ihr sucht Mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten satt geworden seid. Müht euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird“ (6: 26-27). Doch diese Rede verhallt ungehört. Es geht ihnen nicht um „das wahre Brot vom Himmel“, „das Brot, das Gott gibt“, das „vom Himmel herab (kommt) und (…) der Welt das Leben (gibt)“ (6: 33), sondern darum, dass sie jetzt einen Anführer haben, der tausende von Leuten in der Wüste ernähren und sogar Tote lebendig machen kann. Ganz objektiv betrachtet gibt es keine bessere Voraussetzung für einen erfolgreichen Befreiungskampf gegen die verhassten Römer...

Mit diesem Bazillus des Polit-Messianismus sind in unserer Zeit sogar Teile der orthodoxen Christenheit in Form des allgegenwärtigen Ethnophilethismus infiziert. Überall, sogar im Heiligen Land und auf dem Heiligen Berg Athos hindern nationalistische Bestrebungen Christus daran, Sein Reich in dieser Welt zu etablieren, da die Menschen das Irdische dem Himmlischen vorziehen. Und das, obwohl die Geschichte lehrt, dass alle orthodoxen Königreiche eben aufgrund dieser Missachtung der göttlichen Ordnung untergegangen waren, denn schon ihre Anführer und Bewohner „liebten das Ansehen bei den Menschen mehr als das Ansehen bei Gott“ (Joh. 12: 43).

Zwar steht geschrieben: „Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, der Nation, die Er Sich zum Erbteil erwählt hat“ (Ps. 32: 12). Daraus darf man aber nicht schließen, dass es heute tatsächlich eine Nation gibt, die allein aufgrund ethnischer oder historischer Faktoren „Gottes auserwähltes Volk“ ist. Gewiss, „Unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm. 11: 29), aber diese Berufung und diese Gnade müssen durch ein Gott gefälliges Leben bestätigt werden. Andernfalls wäre jeder einzelne Getaufte zur Seligkeit prädestiniert und müsste nicht erst nach der Gerechtigkeit Gottes streben.

Heute würde der Apostel Paulus wohl vielen Griechen, Russen und anderen bezeugen, „dass sie Eifer haben für Gott; aber es ist ein Eifer ohne Erkenntnis. Da sie die Gerechtigkeit Gottes verkannten und ihre eigene aufrichten woll(t)en, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen. Denn Christus ist das Ende des Gesetzes, und jeder, der an Ihn glaubt, wird gerecht“ (Röm. 10: 2-4). Da gibt es keine Rangordnung, keine Unterteilung in Kasten. Es geht einzig und allein darum, dass man „den alten Menschen mit seinen Taten“ ablegt, und „zu einem neuen Menschen“ wird, „der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um Ihn zu erkennen. Wo das geschieht gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles und in allem“ (Kol. 3: 10-11). DAS sind die Eignungskriterien für die Zugehörigkeit zu „Gottes auserwähltem Volk“, und die sind gleich für Juden, Griechen, Russen, Deutsche und Japaner.

Wo DAS aber nicht geschieht, herrscht das Chaos - wie bei uns in Deutschland und ganz Westeuropa, wo statt der Schaffung einheitlicher Strukturen weiterhin Kleinstaaterei betrieben wird, so dass die orthodoxen Gläubigen in ethnischen Ghettos leben und seit Jahrzehnten de facto unter der Verwaltung von Istanbul, Damaskus, Moskau, Tbilissi, Belgrad, Bukarest oder Sofia stehen. In Amerika wurde hingegen vor kurzem mit Metropolit Tichon ein zum orthodoxen Glauben Konvertierter zum Oberhaupt der Autokephalen Kirche gewählt, - einer Kirche, die ihrerseits freilich von der Griechischen Kirche, die auf diesem Kontinent handfeste Interessen zu verteidigen hat, nicht als selbständig anerkannt wird.  Irdische Belange scheinen hierfür immer noch den letzten Ausschlag zu geben.

Christus aber sagt: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Joh. 18: 36). Er lässt Sich auch am heutigen Tag nicht blenden von dem Trubel, der um Seine Person ringsherum veranstaltet wird. Er spricht vielmehr: „Jetzt ist Meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette Mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin Ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche Deinen Namen!“ (Joh. 12: 27-28). Nicht Sein (menschlicher) Wille soll geschenen!..

Deshalb richtet Er den Blick Seiner Jünger – ganz „unpatriotisch“ - auf die kommende Zerstörung des Tempels und der Stadt, auf die Zerstreuung der Juden in alle Welt, auf den Beginn der Not vor dem Ende der Welt, auf Seine Wiederkehr und auf das Weltgericht (s. Mt. 24: 1 – 25: 46; Mk. 13: 1-36; Lk. 21: 5-36). Er warnt vor den Konsequenzen aus der Nichtbeachtung des göttlichen Willens: „Nur noch kurze Zeit ist das Licht bei euch. Geht euren Weg, solange ihr das Licht habt, damit euch nicht die Finsternis überrascht. Wer in der Finsternis geht, weiß nicht, wohin er gerät. Solange ihr das Licht bei euch habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne des Lichts werdet“ (Joh. 12: 35-36; vgl. dazu auch Joh. 11: 9-10). Darum, liebe Brüder und Schwestern, tragen orthodoxe Christen in der ganzen Welt das Kerzenlicht nach dem Orthros zum Karfreitag nach Hause und entzünden damit die Lampen vor ihren Ikonen.

Mit dem heutigen Festtag beginnt für uns die Große Woche. Und obwohl wir nun unvorstellbar tragischer Ereignisse gedenken werden – des Verrats durch Judas und der Festnahme Christi  im Garten Gethsemane, der ängstlichen Flucht der Jünger, der Verspottung und der Geißelung durch die Soldaten, des Scheinprozesses vor dem Hohen Rat, dann der Verschmähung Christi durch das Volk, das Ihm noch wenige Tage zuvor zugejubelt hatte, dazu der Verurteilung durch Pilatus mit gleichzeitiger Freilassung eines Mörders, und schließlich des qualvollen Todes am Kreuz und der Grablegung durch die Ratsherren Josef und Nikodemus – sind unsere Herzen voller hoffnungsfroher Erwartung.

Und diese Freude gleichsam vorwegnehmend, ruft uns der hl. Apostel Paulus in der heutigen Epistellesung zu: „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! (…) Der Herr ist nahe. Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott. Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in der Gemeinschaft mit Christus Jesus bewahren“ (Phil. 4: 4-7).

Für uns ist diese Große Woche, in der der Herr uns Seine Gemeinschaft in Gestalt Seines Leibes und Blutes darreicht, Mittelpunkt unseres Lebens. Diese Gemeinschaft (gr. koinonia, lat. сommunio, slaw. причастие) ist der „Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt“. „Wenn wir nämlich Ihm gleich geworden sind in Seinem Tod, dann werden wir mit Ihm auch in Seiner Auferstehung vereinigt sein“ (Röm. 6: 5).

Ich kann mir kein größeres Glück vorstellen, als am Großen Freitag (Morgenamt mit zwölf Evangeliumslesungen über die Passion Christi) zusammen mit der Mutter Gottes, dem geliebten Apostel, den Myronträgerinnen und mit Ihnen allen im Geiste vereint am Kreuz des Herrn zu stehen. Denn die Tränen, die wir später an diesem Tag gemeinsam über dem Grab des Herrn vergießen werden, tragen in sich schon den Samen der Freude über die Auferstehung. Auch durch sie äußert sich unsere Gemeinschaft mit dem Herrn, denn Dieser weinte ebenso über Lazarus, den Er in wenigen Minuten aus dem Grab rufen sollte (s. Joh. 11: 35). Beides sind Tränen der Liebe – der Liebe Gottes zum Menschen bzw. der Liebe des Menschen zu Gott. Hierbei bewahrheitet sich also das Wort der Heiligen Schrift: „Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten“ (Ps. 125: 5).

 

„Amen. Komm, Herr Jesus! Die Gnade des Herrn Jesus sei mit euch allen! (Offb. 22: 20-21).
Jahr:
2013
Orignalsprache:
Deutsch