Predigt zum 35. Sonntag nach Pfingsten (1 Tim. 1: 15-17; Lk. 18: 35-43) (03.02.2013)

Liebe Brüder und Schwestern,

in der heutigen Evangeliumslesung werden wir zu Zeugen einer Begegnung, die sich am Stadtrand von Jericho ereignet. Ein Blinder (der Evangelist Markus nennt uns in seiner Schilderung dieses Ereignisses den Namen: „Bartimäus, der Sohn des Timäus“, s. Mk. 10: 46) sitzt am Straßenrand und bettelt. Als er hört, dass viele Menschen an ihm vorbeiziehen, erkundigt er sich nach dem Grund dafür. Er erfährt, dass Jesus von Nazaret gerade in der Stadt war und nun auf dem Rückweg ist. Metropolit Antoniy (Bloom) beschreibt den Gemütszustand dieses Blinden in diesem Moment so bildhaft, als wäre er selbst dabei gewesen bzw. als hätte er den Blinden noch persönlich gekannt: Der Blinde hört die Menge aus der Ferne kommen, erfährt, dass Jesus von Nazaret vorübergeht. Es ist die Chance für ihn, um geheilt zu werden. Er hat nur wenige Sekunden Zeit; Zeit, die er nicht verstreichen lassen darf, sonst ist es womöglich für immer zu spät, denn wer weiß, ob Jesus von Nazaret noch jemals in die Gegend von Jericho kommen und an dieser Stelle vorbeigehen wird?! Wenn er zögert, wird die Menge vorbeiziehen; zunächst wird er noch das hektische Treiben von weitem hören, doch dann wird es allmählich immer stiller werden, dann gänzlich in der Ferne verstummen, bis er wieder einsam und verlassen auf der Straße seinem Schicksal überlassen sein wird. Und so ruft er laut: „Jesus, Sohn Davids, habe Erbarmen mit mir!“ (Lk. 18: 38). Und hier geschieht etwas, was zutiefst befremdlich und zugleich allzugut bekannt ist. „Die Leute, die vorausgingen, wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen“ (18: 39). „Sei still! Merkst du nicht, dass du störst?“ - so oder so ähnlich mag es wohl geklungen haben. Sie haben ja schließlich z.T. einen langen Weg auf sich genommen, sind aus den umliegenden Dörfern und Ortschaften zusammengeströmt, um diesen Jesus, von Dem sie so viel gehört haben, zu sehen – Ihn „live“ miterleben zu können. Und da brüllt dieser Bettler dazwischen und stört den ganzen Ablauf der Ereignisse!..

Wir alle neigen wohl zu dem, was den Apostel Jakobus zu folgenden Worten veranlasst: „Wenn in eure Versammlung ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung kommt, und zugleich ein Armer in schmutziger Kleidung, und ihr blickt auf den Mann in der prächtigen Kleidung und sagt: Setz dich hier auf den guten Platz!, und zu dem Armen sagt ihr: Du kannst dort stehen! oder: Setz dich zu meinen Füßen! - macht ihr dann nicht untereinander Unterschiede und fällt Urteile aufgrund verwerflicher Überlegungen? Hört, meine geliebten Brüder: Hat Gott nicht die Armen in der Welt ausgewählt, um sie durch den Glauben reich und zu Erben des Königreichs zu machen, das Er denen verheißen hat, die Ihn lieben? Ihr aber verachtet den Armen“ (Jak. 2: 2-6). Und weiter heißt es: „Wenn ihr nach dem Ansehen der Person urteilt, begeht ihr eine Sünde“ (2: 9).
Die Bewohner Jerichos verlieren in ihrem ungestümen eigensinnigen Verlangen nach Befriedigung ihrer Neugier das Gefühl für Verhältnismäßigkeit. Ihnen geht es um ein Spektakel, ein „Event“ - was kümmert diese Leute da irgendein Bettler, der das Augenlicht wiedererlangen möchte?! Es war damals so wie heute: wenn es auf der Autobahn mal so richtig kracht, bilden sich kilometerlange Staus – auch auf der gegenüberliegenden Fahrbahn – und behindern die Zufahrt der Einsatzfahrzeuge. Ebenso nach einem Unfall in der Innenstadt, wenn jede Sekunde über Leben und Tod entscheiden kann, versammeln sich Gaffer, die statt zu helfen, nur die Rettungskräfte behindern. Welch eine „Güterabwägung“ zwischen der Befriedigung eigener blutrünstiger Neugier einerseits, sowie Mitgefühl und Hilsbereitschaft andererseits!
In empirisch weniger dramatischer, spirituell aber nicht minder schädlicher Weise wiederholt sich das auch in unseren Kirchen: es kommt nämlich immer wieder vor (Tendenz steigend!), dass sich Menschen in unserer hochtechnisierten und materiell abgesicherten Gesellschaft hilfesuchend an Gott in Person eines Priesters wenden. Priester sind bei uns in der Diaspora in der Regel nur zu Gottesdienstzeiten in der Kirche anzutreffen, so dass ein hilfesuchender Mensch, der die Schwelle zum Innenleben der Kirche noch nicht überschritten hat, oftmals im Rahmen der Beichte zum ersten Mal mit einem Priester sprechen und ihm sein Herz ausschütten kann. Auch wenn das nicht der eigentliche Zweck der Beichte ist, kann sich der Priester dieses Menschen annehmen, der nun mal hier und heute den Weg in die Kirche gefunden hat und der, wenn er abgewiesen wird, vielleicht nie mehr wieder kommen wird. Es ist die Gelegenheit, diesen Menschen, der in seiner Not offen ist für alles (so auch für Kirchenfremdes, wenn er hier keine Hilfe erfährt), auf den Weg des Heils zu bringen, ja, buchstäblich sein Leben zu retten. Klar, dass der Priester hier soviel Zeit und soviel seelische Kraft aufwenden muss, wie es die Situation eben erfordert. Aber da gibt es noch die, die in schöner Regelmäßigkeit ihre „Eintrittskarte zur Kommunion“ einlösen wollen, die als „Stammkunden“ ihre alltäglichen Probleme ganz selbstverständlich über die Belange von „Dahergelaufenen“ stellen, und auf dem Vollzug des Beichtrituals über ihrem gebeugten Nacken bestehen. Zwar gleichen besagte „Eindringlinge“ oder „Neuankömmlinge“ in diesem Moment fürwahr spirituell Blinden, die den Glauben zunächst vielleicht nur intuitiv in sich haben, die auch ganz sicher mit ihrem Verstand noch nicht die bewusste Erkenntnis der Wahrheit erlangt haben, aber dennoch mit gläubigen Herzen zu Gott kommen. Deshalb betteln sie um Hilfe, müssen sich teilweise gegen den Widerstand der Alteingesessenen Gehör verschaffen. Und wenn jemand mit großem Kummer in der Seele zur Kirche kommt und sieht, wie groß der Stau bei der Beichte ist, kann ihn sehr leicht der Mut verlassen, so dass er wieder Kehrt macht. Und wenn er trotzdem durchhält und endlich drankommt, wird der Priester bestimmt unter Zeitdruck sein, da der Gottesdienst schon lange begonnen haben sollte und die Leute langsam ungeduldig werden...

Gewiss, der Bettler am Straßenrand vor den Toren Jerichos wendet sich an Christus nicht um des Himmelreiches willen, was er explizit zu verstehen gibt: „Herr, ich möchte wieder sehen können“ (18: 41) Er sieht in Jesus von Nazaret lediglich einen menschlichen Wunderheiler, Den er als „Sohn Davids“ (18: 39) anspricht. Aber er hat ein reines Herz. Dieser formal unvollkommene Glaube ist so stark, dass er alle, die ihm den Mund verbieten wollen, übertönt. Daraufhin vernimmt er die Worte: „Dein Glaube hat dir geholfen“ (18: 42), und nach seiner wudersamen Heilung „pries er Gott und folgte Jesus“ (18: 43). Wer von uns kann von sich sagen, dass sein Glaube so stark war, dass er ihm in aussichtsloser Lage geholfen hat?.. Und wer „preist Gott und folgt Jesus“ nachdem er von Ihm auf wunderbare Weise Hilfe erhalten hat? Und wer bekennt heute seinen Glauben zu Christus, wenn er sich dadurch Schmähungen von Seiten seiner Mitmenschen aussetzt?

- So, wie mit dem Blinden von Jericho, verhält es sich auch mit solchen Brüdern und Schwestern, die von physischer oder psychischer Not getrieben, den Weg in die Kirche finden. Auch wenn ein einfacher Priester, eine gewöhnliche Gemeinde keine Wunder vollbringen können, wenn sie nicht über die materiellen oder technischen Mittel verfügen, um aktive Hilfe leisten zu können, vermögen sie jedoch das zu geben, was sie besitzen (vgl. Apg. 3: 6): Zuwendung, Fürsorge, Trost – die allesamt als Fundament und Vorstufe für die Wiedergeburt des Betreffenden in Christo ursächlich sein können. Wo, wenn nicht in der Not, kann der Samen von Gottes Wort auf fruchtbaren Boden fallen (vgl. Lk. 8: 8, 15)?!..
Das ist auch die einzige Mission der Kirche: das Seelenheil des Menschen. Seelsorger werden Rechenschaft vor Gott ablegen müssen, wenn sie nicht ihre ganze Kraft für den Dienst am Seelenheil der Menschen aufgewandt haben. Das bedeutet aber auch, dass jede Anstrengung, die in ihrer Konsequenz nicht auf dieses Ziel gerichtet ist, die spirituellen, personellen, physischen und materiellen Ressourcen der Kirche auf unverzeiliche Weise vergeudet. Für diesseitliche Probleme gibt es ja kompetente weltliche Institutionen.

Der Apostel Paulus lehrt uns anhand der Ermahnung an seinen Schüler Timotheus, dass unsere Motivation der Hinwendung zum Glauben natürlich nicht in der Hilfe bei gesundheitlichen, familiären, finanziellen, beruflichen, sozialen etc. Problemen bestehen soll, auch wenn der Glauben in besagten Situationen des irdischen Lebens hilfreich ist und hierbei in seiner Sekundärfunktion Orientierungshilfe zum letztendlichen Zwecke des Seelenheils bietet. Inspiriert vom Heiligen Geist bringt er es auf den Punkt. Wieder sehen wir, wie in der Heiligen Schrift des Neuen Testaments in wenigen und einfachen Worten die ganze Quintessenz des Glaubens wiedergegeben wird. Es ist die Rede von der Menschwerdung Gottes zum Heil der Menschen; davon, dass die Voraussetzung zur Erlangung des Heils die reumütige Demut des Menschen ist. Der Apostel führt sich selbst – einen ehemaligen Frevler - als Beispiel für die Liebe Gottes an, die der Herr in gleicher Weise allen Menschen, an allen Orten und zu allen Zeiten zu gewähren bereit ist. Dafür gebührt Gott unsere dankbare und hingebungsvolle Anbetung bis zum Ende der Zeit: „Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste. Aber ich habe Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als erstem Seine ganze Langmut beweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an Ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen. Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen“ (1 Tim. 2: 15-17).

Orignalsprache:
Deutsch