Predigt zum 15. Herrentag nach Pfingsten / nach Kreuzerhöhung (Gal. 2:16-20; 2 Kor. 4:6-15; Mk. 8:34-9:1; Mt. 22:35-46) (03.10.2021)

Liebe Brüder und Schwestern, die Frage eines Schriftgelehrten, mit der er unseren Herrn versuchen wollte, impliziert an sich nur eine Antwort im Singular: „Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz?“ (Mt. 22:36). Nicht, dass der in der Heiligen Schrift kundige Pharisäer am Wissen des Herrn zweifelte oder selbst keine Ahnung hatte, nein, er wollte womöglich ausloten, wo der Herr Seine Präferenzen setzt. Und zunächst erhält er die für einen Gesetzeslehrer einzig mögliche Antwort: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt“ (Mt. 22:37; vgl. Dtn. 6:5). Der Herr bestätigt das noch einmal explizit: „Dies ist das höchste und größte Gebot“. Doch gleich darauf fügt Er hinzu: „Das andere aber ist dem gleich: ´Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst`“ (Mt. 22:38-39; vgl. Lev. 19:18). Statt „entweder oder“, wie vom Fragesteller vermutet, heißt es aus dem Munde des Herrn nun „sowohl als auch“. Die für einen frommen Menschen selbstverständliche Liebe zu Gott hat keinen Bestand ohne die Liebe zum Mitmenschen. Beide Gebote stehen im Gesetz des Mose, doch in zwei verschiedenen Büchern. Der wahre Gesetzgeber – Jesus Christus – fügt sie jetzt zu einem Doppelgebot zusammen. Der Herr kam ja nicht, um das Gesetz abzuschaffen, sondern, um es zu erfüllen (s. Mt. 5:17). Und so ist der von Jesus Christus gegründete Neue Bund die Erfüllung des Alten. Sein Lieblingsjünger wird beide Gebote in einem Satz zusammenfassen: „Und dieses Gebot haben wir von Ihm, dass wer Gott liebt, dass er auch seinen Bruder liebe“ (1 Joh. 4:21). Erfüllen bedeutet einerseits, das Vorgegebene mit größter Sorgfalt zu befolgen, andererseits aber auch das Bestehende auf eine andere, höhere Stufe zu stellen. Das aber ist nur im Geist Gottes begreifbar. Im Alten Bund gab es nur wenige Auserwählte, die Propheten und Prophetinnen*), die den Heiligen Geist in sich trugen (s. 1 Petr. 1:10-12). Nach der Gründung der Kirche ist jeder „aus Wasser und Geist“ Geborene (Joh. 3:5; vgl. 1 Joh. 5:6) zum Träger des Heiligen Geistes geworden (s. Mt. 3:11; Mk. 1:8; Lk. 316; Joh. 1:33; Apg. 1:5; 2:3-4; 17-18; 10:44-48; 1 Petr. 1:2; 4:14; 1 Joh. 4:13; Röm. 8:9,14-16; 1 Kor. 3:16; 12:13; 2 Kor. 1:21-22; Gal. 3:2,5; 4:6; Eph. 1:13-14,17 u.v.m.). Und darin liegt der Schlüssel für die Auslegung des höchsten und größten Gebots bzw. des anderen Gebots, das ihm gleich ist. Der Mensch besteht aus Leib und Seele. Zur Seele gehören der Intellekt, das Herz und die Willenskraft. Ursprünglich war der ganze Mensch in Gottes Abbild erschaffen worden (s. Gen. 1:27), denn vor dem Sündenfall war auch der von der Beschaffung her engelsgleiche Leib unsterblich. Und er wird es dank der Vereinigung mit dem Leib Christi (der Kirche) wieder sein, da die Herrlichkeit des Menschen nach der leiblichen Auferstehung ungleich größer sein wird als zum Zeitpunkt seiner Schöpfung (s. 1 Joh. 3:2b; 1 Kor. 15:42-49; Phil. 3:20-21; Kol. 3:4). Aber in der Zwischenzeit sind wir noch Gefangene der gefallenen menschlichen Natur (s. Röm. 7:24; 8:24; 2 Kor. 5:1-8), welche die Ebenbildlichkeit Gottes nur noch rudimentär in sich trägt (s. 1 Joh. 3:2a). Einzig und allein auf dieser Erkenntnis basierend kann man weiter über Liebe (vgl. 1 Joh. 4:8,17; 1 Kor. 13) sprechen, denn Liebe vor dem Sündenfall ist nicht zwingend dasselbe wie Liebe nach dem Sündenfall. Die Funktionen der Seele sind von der Sünde zwar nicht völlig vernichtet worden, aber in eine andere Richtung gelenkt worden. Im gefallenen Zustand sehnt sich der Mensch nach irdischer Liebe, nach fleischlichen und emotionalen Vergnügungen sowie nach der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse. Das menschliche Bestreben ist in diesem Zustand auf die Horizontale ausgerichtet. Der Mensch besitzt zwar immer noch die Befähigung, sich nach der Vertikale auszurichten, allerdings nur mit größter Anstrengung (s. Mt. 11:12; Lk. 16:16; vgl. Gal. 5:24). Das, was für den Menschen anfangs natürlich war, ist für ihn jetzt nur in der mühevoll angeeigneten Gnade des Heiligen Geistes erreichbar, also in einem übernatürlichen Zustand. Das Maß dieser Anstrengung wird ausschlaggebend für sein ewiges Heil sein (s. 2 Kor. 5:10). Der Gerechtigkeit Gottes liegen demnach keine juristischen Normen zugrunde, vielmehr kommen in ihr geistliche Gesetzmäßigkeiten zur Anwendung (s. 2 Kor. 9:6). Betrachten wir das Gebot der Liebe also durch das geistliche Prisma. Die höchste Erfüllung der Seele des Menschen ist ja das Leben nach dem Geist (gr. nous). Alles in der Kirche – Gebete, Gottesdienste, Kanones, Bräuche etc. – ist bloß Fassade, wenn es der spirituellen Komponente entbehrt (s. Joh. 1:13; 2:15-17; 3:3-6; Röm. 8:5-9; 1 Kor. 2:10-15). Und wie sollte es in Bezug auf das Gebot der Gebote anders sein?! Wenn Gott also die Welt so sehr geliebt hat, „dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3:16; vgl. Röm. 5:8; 8:32; 1 Joh. 4:9), so muss auch unsere oberste Sorge sein, dass „alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim. 2:4; vgl. 2 Petr. 3:9; Röm. 11:32). Und so ist es gar nicht verwunderlich, dass wir schon im Alten Bund eindeutige Hinweise auf Gottes unergründliche Liebe zu allen Menschen finden: „Meinst du, dass Ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“ (Ez. 18:23). Eben dazu – und nur dazu – ist die Kirche mit dem Blut unseres Herrn Jesus Christus gegründet worden. Amen. __________________________________________________________________________________________ *) Drei Prophetinnen sind uns aus dem Alten Testament bekannt: Miriam (s. Ex. 15:20), Debora (s. Ri. 4:4) und Hulda (s. 4 Kön. 22:14 u. 2 Chr. 34:22). Dazu kommen Elisabeth (s. Lk. 1:41) und Hanna (s. Lk. 2:36), von denen wir zwar aus dem Neuen Testament erfahren, die aber noch vor der Gründung der Kirche wirkten. Und natürlich besaß auch die Mutter des Herrn schon vor dem Ausgießen des Heiligen Geistes „auf alles Fleisch“ (Apg.1:17-18; vgl. Joel 3:1) die prophetische Gabe (s. Lk. 1:46-57).
Jahr:
2021
Orignalsprache:
Deutsch