Predigt zum 19. Herrentag nach Pfingsten (2 Kor 11:31-12:9; Lk. 6:31-36) (18.10.2020)

Liebe Brüder und Schwestern, 

 

zum heutigen Herrentag wird uns nur ein kurzer Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium zum Nachsinnen angeboten. Er beginnt mit der allseits als „Goldene Regel“ bezeichneten Formel: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“ (Lk. 6:31, vgl. Mt. 7:12). Diese Regel hat keinen direkten bzw. exklusiven Bezug zum geistlichen Leben – vergleichbare Aussagen finden sich in anderen religiösen Schriften und moralischen Codices. Und Ende des 18. Jahrhunderts prägte Immanuel Kant auf dieser Grundlage bekanntlich den Begriff des „kategorischen Imperativs“. Die besagte Formel ist vielseitig anwendbar, vor allem, wenn man genau darüber nachdenkt, wer denn so unter den „anderen“ gemeint sein könnte. Es ergäben sich dann unzählige Reflexionsvarianten:

- Kinder können von ihren Eltern nicht erwarten, dass diese stets auf ihre Bedürfnisse eingehen, wenn die Kinder selbst den Eltern den gebührenden Respekt verweigern;

- Bürger können nicht ständig auf den Staat schimpfen und von ihm Unterstützung erwarten, wenn sie nicht selbst bereit sind, ihren zumutbaren Beitrag zum Wohle der Gesellschaft zu leisten;

- Migranten haben keinen Anspruch auf Respektierung ihrer kulturellen Eigenheiten in der neuen Heimat, wenn sie selbst dem sie aufnehmenden Land bzw. der in ihm vorherrschenden Gesellschaftsordnung keinen Respekt entgegenbringen;

- Chaoten und Schmierfinken sollten sich ernsthaft fragen, ob sie im Bedarfsfall für sich selbst staatliche Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen dürfen, solange sie pauschal alle Polizisten als Bastarde bezeichnen;

- „Schaulustige“, die am Einsatzort Rettungssanitäter und Feuerwehrleute behindern oder sogar tätlich angehen, sollten allen Ernstes den Verzicht auf Inanspruchnahme jeglicher Notfallmaßnahmen für den Fall erklären, dass sie selbst auf die Tragbahre gelegt werden müssen oder wenn ihr eigenes Haus in Flammen steht. Und so weiter und so fort...

Nur Rechte einfordern und nichts dafür leisten funktioniert auf Dauer nicht! Eine Gesellschaft kann nur soviel zurückgeben, wie sie von jedem einzelnen in der Summe bekommt. Überbordende Empfängermentalität aber bringt jedes Sozialsystem aus dem Gefüge und führt unweigerlich zum Kollaps desselben.

Einst besuchte der Präsident der westlichen Führungsmacht ein großes Land im Osten Asiens. Nach der protokollarischen Begrüßung durch das dortige Staatsoberhaupt pries der Gast bei jeder sich bietenden Gelegenheit die liberale westliche Lebensweise als einzig wahre Gesellschaftsform, und zwar in gewohnt arroganter und selbstsicherer Manier, die a priori keine alternative Sichtweise zulässt. Nachdem sich der Gastgeber diesen Monolog eine Zeit lang angehört hatte, entgegnete er freundlich: „Mr. President! Unsere Zivilisation existiert schon seit 5000 Jahren als Hochkultur. Bei uns steht das Allgemeinwohl über den Interessen des Individuums. Ihr Land ist dagegen gerade mal etwas mehr als 200 Jahre alt, was im historischen Kontext ein Wimpernschlag ist. Ihr Experiment hat gerade begonnen, und sie wissen nicht, womit es enden wird“.

Alles bisher Gesagte gründet auf Vernunft, Respekt und Toleranz – auf Werten, die an und für sich gut sind. Sie sind die funktionalen Grundpfeiler, auf denen die „Goldene Regel“ basiert. Diese humanistischen Errungenschaften können gewiss das gesellschaftliche Miteinander verbessern helfen, aber sie führen als rein irdische Kategorien nicht zu Gott. Zur Erlangung der Gotteserkenntnis bedarf es anderer Kriterien und Maßstäbe: „Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe“ (1 Joh. 4:7-8). Nun wird ersichtlich, in was für einem Spannungsfeld humanistische Werte wie Respekt und Toleranz einerseits, und christliche Werte wie Liebe und Barmherzigkeit, andererseits, stehen. Toleranz begnügt sich mit der Minimalformel: „Leben und leben lassen!“ - Und Liebe?..  Im geistlichen Sinne ist sie keine bloße Gefühlsregung, sondern Resultat äußerster asketischer Anstrengung. „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden“ (Lk. 6:32). Das ist rein menschliches Denken, vor Gott nahezu wertlos. Doch selbstlos zu lieben – auch die, welche uns hassen, und ihnen unsere Barmherzigkeit zu erweisen – das hat vor Gott Bestand. Deshalb wird das Ziel ausgegeben: „Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch Er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk. 6:35-36).

Wenn nun also die Liebe aus Gott ist und jeder, der liebt, von Gott stammt, müsste doch jede christlichen Hausgemeinschaft und jede Kirchengemeinde in sich sowie alle Gliedkirchen untereinander „ein Herz und eine Seele“ (Apg. 4:32) sein. Ja, es ist schwer, gütig gegen die Bösen und Undankbaren zu sein, wie es auch nicht leicht ist, unsere Brüder und Schwestern in Christo mit all ihren Unzulänglichkeiten zu akzeptieren. Aber mangels Alternative müssen wir, wenn wir das ewige Leben mit Christus erlangen wollen, es mit aller Kraft versuchen! Zusätzliche Motivation schöpfen wir aus der Verheißung des großen Lohnes für die Söhne Gottes (s. Lk. 6:35). Denn immerhin besitzen wir, die wir Christus (in der Taufe) angenommen haben, die Macht, „Kinder Gottes zu werden“ (Joh. 1:12). Also wie Christus sein!.. Mehr geht wirklich nicht. Amen. 

Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch