Predigt zum Herrentag von der Vertreibung Adams / Vergebungssonntag (Röm. 13:11-14:4; Mt. 6:14-21) (01.03.2020)

Liebe Brüder und Schwestern, 

nun ist sie da, die Große Fastenzeit. „Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf“ (Röm. 13:11). „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor. 5:20), sagt der Apostel zudem. Vor Wochenfrist hörten wir in der Ankündigung über das Weltgericht, dass diejenigen, die bei sich keinerlei Verfehlungen sahen, verurteilt wurden, während diejenigen, die sich keiner guten Werke bewusst waren, Rechtfertigung erlangten. Also zeigt dieser kleine Rückgriff auf die letzte Woche, dass es nicht darum geht, vorschriftsmäßig zu leben, sondern vor Gott in einer demütigen Haltung zu verweilen. Dies ist auf das Engste mit der Haltung gegenüber den Mitmenschen verbunden (s. Mt. 25:40,45). „Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euer himmlischer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt. 6:14-15). 

Analysieren wir das Gesagte, können wir nicht umhin festzustellen, dass am Ende unseres Lebens (bzw. für alle bis zur Endzeit Verbliebenen – s. 1 Thess. 4:17) jegliches Geschehen auf Erden untrüglich und allseits ersichtlich bis ins letzte Detail offengelegt wird. Niemand wird dem unbestechlichen Richter entrinnen können. Auch wird niemand anhand seines Lebens oder seiner Werke gerecht empfunden werden; wir alle bedürfen der gnädigen Rechtfertigung durch die Milde des Herrn (s. Ps. 129:3-4), denn selbst die Engel und der Himmel sind unrein vor Gott. Die finale Rechenschaft vor Gott als Folge der Endlichkeit allen irdischen Seins ist die ultimative Gewissheit betreffs unseres irdischen Daseins. Es läuft daher alles auf die eine Frage hinaus: Wie können wir da Rechtfertigung erlangen?! Wie???!..

Gott vermag alles. Er ist unendlich gütig aber auch unendlich gerecht (s. Ps. 32:5; 83:12; 84:11,12-14; 100:1). Gut. Aber lassen sich diese beiden Kategorien denn überhaupt miteinander vereinbaren?!.. Aus menschlicher Sicht erscheint dies unmöglich. Einen Massenmörder, zum Beispiel, kann man nicht einfach so begnadigen, ohne sich am elementaren Gerechtigkeitsempfinden zu vergreifen. Andererseits kann man in vielerlei Situationen nicht einfach nach Recht und Ordnung verfahren, ohne gegen humanitäre Grundsätze zu verstoßen. Dennoch wird Gott einerseits in Seinen Worten gerechtfertigt und siegt dazu in Seinem Richten (s. Ps. 50:6), während bei Ihm andererseits die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert (s. Jak. 2:13). Wie „schafft“ es Gott also, beiden Aspekten in vollkommener Weise gerecht zu werden? Wie kann das vermeintlich Unvereinbare doch gelingen? - Die Antwort darauf liefert zugleich die Antwort auf die abstruse Frage des Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ (Joh. 18:38), die richtiggehend ja hätte lauten müssen: „Wer ist (die) Wahrheit?“ Die personifizierte absolute Wahrheit stand bekanntlich nur wenige Schritte vor ihm. „Gott ist die Liebe“ (1 Joh. 4:8,16) Er will aber um unseretwillen, dass wir aus Gerechtigkeit gerettet werden; Jesus Christus, ist „die Wahrheit“ (Joh. 14:6), Er will aber, dass wir trotz unserer Unwürdigkeit nicht der Verdammnis anheimfallen...“Gott hat uns nicht für das Gericht Seines Zorns bestimmt, sondern dafür, dass wir durch Jesus Christus, unseren Herrn, das Heil erlangen. Er ist für uns gestorben, damit wir vereint mit Ihm leben“ (1 Thess. 5:9-10). Über Ihn stand schon vorher geschrieben: „Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war Er verachtet; wir schätzten Ihn nicht. Aber Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf Sich geladen. Wir meinten, Er sei von Gott geschlagen, von Ihm getroffen und gebeugt. Doch Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf Ihm, durch Seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf Ihn die Schuld von uns allen. Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber Er tat Seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch Er Seinen Mund nicht auf. Durch Haft und Gericht wurde Er dahingerafft, doch wen kümmerte Sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen Seines Volkes zu Tode getroffen. Bei den Ruchlosen gab man Ihm Sein Grab, bei den Verbrechern Seine Ruhestätte, obwohl Er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in Seinem Mund war. Doch der Herr fand Gefallen an Seinem zerschlagenen Knecht, Er rettete Den, Der Sein Leben als Sühneopfer gab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch Ihn gelingen. Nachdem Er so vieles ertrug, erblickt Er das Licht. Er sättigt Sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; Er lädt ihre Schuld auf Sich. Deshalb gebe Ich Ihm Seinen Anteil unter den Großen, und mit den Mächtigen teilt Er die Beute, weil Er Sein Leben dem Tod preisgab und Sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn Er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein“ (Jes. 53:3-12).   

Dadurch, dass Gottes Sohn Sein Leben als Sühneopfer gab, wurden wir von unserer Schuld befreit. Das ist gewiss ein unermesslicher Gnadenakt, Ausdruck der unerschöpflichen Liebe – aber bleibt dabei nicht die Gerechtigkeit auf der Strecke?! Der Gerechte und Schuldlose hat die Ungerechten und Schuldbeladenen durch Sein Leiden gerecht gemacht – solch eine Barmherzigkeit ist unbeschreiblich, unvorstellbar, unbegreiflich, aber doch nicht gerecht! Wie soll da die Balance zwischen Gnade und Recht jemals hergestellt werden? Ist das nicht die Quadratur des Kreises?

Gerade hier kommt der „Faktor M“ ins Spiel. Gott hat uns befähigt, dieses Ungleichgewicht wieder auszugleichen. Wir sind völlig zu unrecht begnadigt, können aber dadurch, dass wir unseren Mitmenschen ihre Verfehlungen vergeben, diese Begnadigung im Nachhinein „rechtfertigen“. Natürlich ist uns dabei immer bewusst, dass unsere gewaltige Schuld vor Gott in keinem Verhältnis zu der vergleichsweise geringen Verschuldung unserer Mitmenschen gegen uns steht, aber Gott berücksichtigt ja, dass wir nur Menschen sind und folglich nur das tun können, was in unserer Macht steht. Aber wenn wir das tun, nämlich unseren Mitmenschen von ganzem Herzen vergeben, dann werden wir  zu kongruenten Nachahmern der Güte unseres himmlischen Vaters (s. Lk. 6:36). Und dann wird sogar das Unvorstellbare und Unglaubliche nach dem Worte des  Herrn möglich: „Amen, amen, Ich sage euch: Wer an Mich glaubt, wird die  Werke, die Ich vollbringe, auch vollbringen, und wird noch größere vollbringen,  denn Ich gehe zum Vater“ (Joh. 14:12). Was für eine unglaublich herrliche Aussicht das ist für uns alle! Wir dürfen diese sich uns bietende Chance aber auf gar keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen. 

Für Gott ist es doch ein Leichtes, zu vergeben; wenn wir es Ihm aber auch nur in geringfügiger Weise gleichtun, muss uns dies doch in der Relation (und in Anbetracht der göttlichen Gnade) noch höher angerechnet werden. So demütigt Sich Gott vor uns, wie Er es schon tat, als Er Sich vom Stammvater Jakob im Zweikampf „besiegen“ ließ (s. Gen. 32:23-33)! Und wir wollen uns vor unserem Mitmenschen nicht demütigen und ihn als erste um Verzeihung bitten?!..

Wir können uns die unermessliche Gnade Gottes also „verdienen“, wenn wir selbst gegenüber unseren Mitmenschen Gnade vor Recht walten lassen. Alles andere ergäbe doch keinen Sinn: Fasten, häusliche Gebete mit zig Verbeugungen, lange Gottesdienste, häufiges Beichten, regelmäßiger Empfang der Heiligen Gaben während der Großen Fastenzeit. Wer seinem Bruder oder seiner Schwester nicht von ganzem Herzen vergibt, kann das alles bis zum Exzess treiben – und hat doch keinen Anteil am Leben in Christus! Er mag sich an seine irdischen, menschlichen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit klammern, aber was sind diese wert vor dem Angesicht der alles verzeihenden Güte unseres Gottes?! Wer seinem Nächsten nicht vergeben kann (oder will), muss sich selbst eingestehen, dass er unfähig ist, seine eigenen Sünden zu erkennen. Er ignoriert nämlich, dass er in Gottes unendlicher Schuld steht. Der Herr wird ihm alles vergeben, wenn auch er über seinen eigenen Schatten der krankhaften Selbstbezogenheit springt. Es scheint nur schwierig zu Anfang, aber welche Erleichterung empfindet man danach, wenn der tonnenschwere Stein vom Herzen gefallen ist! Wir beten ja bei jedem Gottesdienst „um den Frieden von oben und um das Heil unserer Seelen“ - den Frieden Gottes, der für das Seelenheil unerlässlich ist und dessen Gewährung zuallererst in unserer Hand liegt. „Frieden hinterlasse Ich euch, Meinen Frieden gebe Ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe Ich euch“ (Joh. 14:27). Strengen wir uns alle gemeinsam an, diesen Frieden in uns selbst und auch untereinander zu bewahren. Die Stunde ist gekommen aufzustehen vom Schlaf... Amen.   

Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch