Predigt zum Herrentag vom Weltgericht (1. Kor. 8:8-9:2; Mt. 25:31-46) (23.02.2015)

Liebe Brüder und Schwestern, 

nur noch eine Woche liegt heute zwischen uns und der heiligen und Großen Fastenzeit. Welch eine Freude ergreift uns bereits jetzt, dass es bald losgeht! Da das Ziel des Menschen das Seelenheil ist und das größte Glück auf Erden die gnadenvolle Gemeinschaft mit Gott, kann ein orthodoxer Christ nichts als Vorfreude in diesen letzten wenigen Tagen vor dem Versöhnungstag empfinden. Dann beginnt die Zeit, in der wir uns dank der uns gnädig in Form von wunderbaren geistlichen Arzneien herabgesandten Hilfsmitteln in dem üben wollen, was für unser Seelenheil und für unsere Beziehung zu unserem Herrn maßgeblich ist – der Liebe. Jeder weiß, dass die Liebe zu Gott und zu seinem Nächsten das vornehmste und wichtigste Gebot ist, an dem das „ganze Gesetz samt den Propheten“ hängt (s. Mt. 22:35-40; Mk. 12:28-34; vgl. Lk. 10:25-28;   n. 6:5; Lev. 19:18). Passend dazu wird in der heute vernommenen Parabel vom Weltgericht über die Liebe als dem herausragenden Kriterium zur  Erlangung der Rechtfertigung am jüngsten Tag gesprochen. Ohne die Liebe sind sämtliche Tugenden – himmlische Gnadengaben, Gotteserkenntnis, unerschütterlicher Glaube, Wundertätigkeit, Selbstlosigkeit und sogar Selbstaufopferung bis zum Tod nichts wert (s. 1 Kor. 13:1-3). Also ist die Liebe das Maß, das am Ende über unser Heil entscheiden wird (s. Mt. 7:2; Mk. 4:24; Lk. 6:38). 

„Wunderbar“, werden jetzt einige sagen. - „Wozu dann all diese Gottesdienste, die Fastenzeit und all das übrige Zeug? Lasst uns Geld für Seerettungsboote im Mittelmeer spenden und mehr Zeit und Kraft für Arme und Kranke aufwenden! Dann haben wir unsere Schuldigkeit in Bezug auf das Gebot der Liebe getan“. In den Augen unserer „aufgeklärten“ Zeitgenossen mag das vollkommen einleuchtend klingen. Aber spricht Christus in Seinem Evangelium von dieser Liebe?!.. – Gewiss finden sich im Evangelium neben der heutigen Parabel noch andere Hinweise in Bezug auf tätige Fürsorglichkeit als notwendige Zutat zur Erlangung des Seelenheils (s. Lk. 3:10; Lk. 10:30-35), - wie sollte es auch anders sein? - aber letztlich deuten sie alle nur auf die eine göttliche Liebe (griech. Agape) hin. Liebe im menschlichen Sinn ist noch keine Tugend, sondern Bestandteil der von der Sünde zwar befallenen, aber doch nicht vollständig zerstörten Natur des Menschen. Jeder normale Mensch liebt von klein auf seine Eltern und Geschwistern, später den Ehegatten und seine Kinder, die übrigen Verwandten und seine Freunde. Es gibt darüber hinaus aber auch Formen von „Liebe“, über die man sich schämen sollte, auch nur zu reden (s. Eph. 5:12). Überhaupt ist jegliche Gemütsregung, die das Blut in Wallung bringt, der beschädigten menschlichen Natur nach dem Sündenfall geschuldet, so dass wir alle „in Unrecht empfangen“ und von unserer Mutter „in Sünden“ geboren wurden (Ps. 50:7). Die (kirchlich gesegnete) körperliche Liebe ist im christlichen Sinne unerlässlich für die Fortpflanzung (s. Gen. 1:27) und notwendig „wegen der Gefahr der Unzucht“ (1 Kor. 7:2), sie wird aber als solche noch zu keiner Gott wohlgefälligen Handlung. Nicht von ungefähr wurden die Gottesmutter und Johannes der Täufer von ihren heiligen Eltern in einem Alter gezeugt, in dem Fleischeslust keine Rolle mehr spielt. Und zuletzt hat der Herr Selbst Fleisch vom Heiligen Geist und der Immer-Jungfrau Maria angenommen, die alles Fleischliche in sich vollkommen unwirksam gemacht hatte (vgl. Kol. 3:5). Und allen, die Christus aufnehmen, „gab Er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an Seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh. 1:12-13). Das Mysterium der Ehe ist ja keine legalisierte Befriedigung der körperlichen Begierden, sondern ein Aufstieg von (anfangs noch) irdischer Affinität zur Vervollkommnung in der Liebe im Leib Christi (s. Eph. 5:30). Dieser Aufstieg in Gnade führt zur Verwandlung des irdischen „Wassers“ in himmlischen „Wein“ (s. Joh. 2:1-12), der wahrhaftig und nachhaltig das Menschenherz erfreut (s. Ps. 103:15). Nur so kann man bis ins hohe Alter noch in der Liebe wachsen – und das, im vollkommenen Glauben an die Auferstehung, sogar über den Tod hinaus (s. 1 Kor. 13:8)!  

Schließlich gibt es noch die menschliche Barmherzigkeit aus Mitgefühl zu den Notleidenden und Betrübten, die auch dem Herrn Selbst nach Seiner menschlichen Natur nicht fremd war (s. z.B. Lk. 7:13). Auch dieses Gefühl ist von Natur aus bei den meisten normalen Menschen wohl noch vorhanden. Aber diese menschlichen Regungen verhindern nicht, dass die Menschen trotz eines guten Herzens sündhaft leben und sämtliche Gebote Gottes missachten können. Zudem müsste jedem bewusst sein, dass wenn sich religiöse Scharlatane, gewissenlose Politdemagogen oder verwegene Trickbetrüger die mitleidsvollen Regungen der Menschen für ihre schändlichen Machenschaften zunutze machen können, wie leicht kann es dann dem „Vater der Lüge“ (Joh. 8:44) gelingen, solch ahnungslose Menschen vor seinen Karren zu spannen!.. Also kann menschliche Gutherzigkeit nicht gleichgesetzt werden mit Agape, der göttlich inspirierten Liebe. Im Gegenteil, bei Letzterer handelt es sich um etwas völlig anderes, das der natürlichen menschlichen Gefühlsregung vollkommen entgegengesetzt ist. Diese Liebe ist ein Charisma, das eben nur durch enorme Anstrengung, durch „Gebet und Fasten“ (Mk. 9:29) erlangt werden kann. Um diese Liebe in Christo zu erreichen, müssen wir „eine neue Schöpfung“ werden (2 Kor. 5:17; Gal. 6:15), also alles daran setzen, in der Gnade des Heiligen Geistes zu stehen. Der heilige Johannes Klimakos, dem wir zu Beginn der zweiten Hälfte der Großen Fastenzeit begegnen werden, beschrieb, nachdem er vierzig Jahre in der Wüste mit Beten und Fasten zugebracht hatte, in 30 Kapiteln („Stufen“) den mühevollen und langwierigen Weg zu Gott –  von einer Tugend zur anderen, an deren Ende die Liebe steht. - Glauben denn die pseudo-christlichen Möchtegern-Moralisten heute ernsthaft, sie könnten 29 Stufen einfach „überspringen“?!.. Ein Hase-und-Igel-Spiel kann aber im geistlichen Leben nicht gelingen. Wer das immer noch nicht begreifen will, der soll sich den Herrn Selbst als Beispiel nehmen: Zunächst preist der Herr in der Gegend von Cäsarea Philippi (wo bis zum heutigen Tag ein heidnischer Felsen steht, auf dem Götzenopfer dargebracht wurden) Simon Petrus selig für dessen Messiasbekenntnis, insbesondere aber dafür, dass ihm dessen Erkenntnis „nicht Fleisch und Blut“ offenbart hätten, sondern Sein Vater im Himmel (s. Mt. 16:17). Für dieses Bekenntnis Christi, auf dem sich unser Glaube gründet (vgl. 1 Kor. 10:4), wird Simon aus Bethsaida Kephas oder Petros (= Felsen) genannt. Doch als Petrus wenige Augenblicke danach aus menschlich nachvollziehbarer Sorge um das leibliche Wohl seines Meisters Diesen von Dessen lebenspendenden Leiden abbringen will, hört er folgende furchterregende Worte: „Weg mit dir, Satan, geh Mir aus den Augen! Du willst Mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (Mt. 16:23). Klarer kann der Antagonismus zwischen (wohlgemeintem) menschlichen Willen und dem unendlich weisen und vollkommenen Willen Gottes nicht zum Ausdruck gebracht werden! Es bedeutet nichts anderes, als dass sich der Satan den menschlichen Willen zunutze machen will, um den Menschen zu Fall – zum Abfall von Christus – zu bringen...

Selbst das Gebot der Achtung vor den Eltern (s. Ex. 20:12; Dtn. 5:16) wird, in einem Zug mit jeglicher Verwandtschaftsliebe, relativiert, wenn diese natürliche Emotion im Widerspruch zur Liebe zu Gott steht (s. Mt. 8:21-22; 10:34-37; Mk. 10:29-30; Lk. 9:59-62; 14:26; vgl. dazu auch Mt. 12:46-50; Mk. 3:31-35; Lk. 8:19-21). Muss noch mehr gesagt werden, damit wir begreifen, dass göttliche Liebe die Frucht großer innerer und äußerer Anstrengung ist, und keine Gefühlsduselei?!.. Die Liebe, die vom Herrn gewollt und geboten ist, steht über der (gefallenen) menschlichen Natur. Heilige wie Erzdiakon Stephanos, Basilios der Große, Philaret der Mildtätige, Johannes von Kronstadt, Großfürstin Elisabeth u.v.a. waren „erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist“ (Apg. 6:5), sie besaßen die göttliche Gabe, auch in den heruntergekommenen Gestalten ihrer Zeit das Ebenbild Gottes zu erkennen, weshalb ihre Wohltätigkeit „voll Geist und Weisheit“ (s. Apg. 6:3) vonstatten ging. Und wenn Hungersnöte herrschten, öffneten Klöster selbstverständlich zu jeder Zeit ihre Kornkammern zur Linderung des Leids in der umliegenden Bevölkerung. 

Auch der Apostel Paulus trifft eine drastische Unterscheidung zwischen der weltlichen (emotionalen) und der himmlischen (geistlichen) Liebe, welche die Frucht des Geistes ist, weshalb wir berufen sind, uns vom Geiste führen zu lassen (s. Gal. 5:13-18). „Die Werke des Fleisches sind deutlich erkennbar: Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und ähnliches mehr. Ich wiederhole, was ich euch schon früher gesagt habe: Wer so etwas tut, wird das Reich Gottes nicht erben. Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung; dem allem widerspricht das Gesetz nicht. Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. Wenn wir aus dem Geist leben, dann wollen wir dem Geist auch folgen“ (Gal. 5:19-25).   

Das ist es, worauf es uns in der bevorstehenden heiligsten Zeit des Kirchenjahres ankommen muss. Selbstzufriedenheit ist vollkommen fehl am Platz, weil es bei jemandem, der bei sich keine Defizite sieht, zu einem bösen Erwachen am letzten Tag kommen wird (s. Mt. 25:44-46). Es wird die Folge dessen sein, dass sie zwar, wie sei selbst meinten, Gott „in ihren Herzen hatten“, nicht aber nach den „höheren Gnadengaben“ (1 Kor. 12:31) strebten. Das Gleichnis vom Weltgericht ist doch im Grunde ein eindringlicher Aufruf an uns alle, uns für diesen letzten und wichtigsten Tag (der für jeden von uns ja schon heute anbrechen kann) zu rüsten. Wir Orthodoxe werden heute beileibe nicht nur von Atheisten als Eiferer und Ewiggestrige angesehen, weil wir bemüht sind, die Heilige Schrift als Ganzes, ohne Rosinenpickerei, im Geiste der Urkirche auszulegen und „im Geist und in der Wahrheit“ (Joh. 4:23) zu leben. Dies ist das Fundament, auf dem sich unsere Beziehung zu Staat und Gesellschaft gründet, „damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können“ (1 Tim. 2:2). Aber Ziel ist und bleibt die Vorbereitung auf den letzten Tag. Wir bemühen uns also, in Frömmigkeit und Rechtschaffenheit zu leben, um vorbereitet zu sein für den Tag des Herrn. Als Priester werde ich im Alltag stets damit konfrontiert, dass die Menschen mit all ihrer Denkweise und Schaffenskraft nur am irdischen Leben hängen, und sie dann völlig unvorbereitet sind, wenn das einzig Unausweichliche kommt. Der Tod ist nur schrecklich, wenn er uns unvorbereitet trifft, denn „es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Hebr. 10:31). Deshalb flehen wir bei jedem Gottesdienst um die Gnade, „eine gute Rechenschaft vor dem furchtbaren Gericht Christi“ erhalten zu dürfen. Und doch gelingt es dem Widersacher immer wieder von Neuem, die Menschen mit lauter zeitlichen Dingen zu verwirren, damit sie bloß nicht an das einzig Notwendige denken, das ihnen nicht genommen werden kann (s. Lk. 10:42). An diesen geistlichen und unvergänglichen Gütern aber sollen wir reich werden (s. Mt. 6:19-21; Lk. 12:33-34). Wenn unsere Gerechtigkeit nämlich das säkulare Gerechtigkeitsempfinden nicht übertrifft, werden wir nicht in das Himmelreich kommen (s. Mt. 5:20). Es geht folglich darum, unser geistliches Auge von jeglichem weltlichem Unrat zu reinigen, damit es sich am Ende nicht herausstellt, dass das vermeintliche Licht in uns Finsternis ist (s. Mt. 6:22-23; Lk. 11:34-36). Dann wird uns auch noch das genommen, was wir hatten (bzw. glaubten zu haben). Wenn aber mit dem heutigen Tag ein Umdenken wenigstens in diesem Punkt bei uns stattfindet, dann hat die heutige Lesung vom furchtbaren Gericht Gottes ihre Wirkung nicht verfehlt. Dann kommt das zum Tragen, was die heiligen Väter seit Generationen predigen: „Denk an den letzten Tag deines Lebens und du wirst dein ganzes Leben lang nicht sündigen!“ Amen.

Jahr:
2020
Orignalsprache:
Deutsch