Predigt zum 20. Herrentag nach Pfingsten (Gal. 1:11-19; Lk. 16:19-31) (03.11.2019)

Liebe Brüder und Schwestern, 

das Gleichnis vom reichen Mann und dem todkranken Bettler Lazarus ist eines von mehreren Gleichnissen des Herrn, das die Nächstenliebe direkt zum Hauptgegenstand der Betrachtung macht. Wir kennen ja noch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (s. Lk. 10:30-37) sowie die Parabel vom Weltgericht (s. Mt. 25:31-46). Diese bildhaften Reden sollen uns zusammen mit dem expliziten Aufruf aus der Bergpredigt (s. Mt. 5:43-48; Lk. 6:27-36) zu der Erkenntnis führen, dass auf dem Weg zu Gott die Liebe das Maß aller Dinge ist. 

Nächstenliebe erwächst aus Gottesliebe, und ist, wie wir wissen, mit ihr untrennbar verbunden (s. Mt. 22:41-46; Mk. 12:28-31; Lk. 10:25-28). Nächstenliebe gründet im christlichen Verständnis aber keineswegs auf Opferbereitschaft, sondern auf Barmherzigkeit (s. Hos. 6:6; vgl.  Mt. 9:13; 12:7). Wie man aus dem Wortstamm „Barmherzigkeit“ ableiten kann, kommt diese aus dem Innersten, denn „Gott liebt einen fröhlichen Geber“ (2 Kor. 9:7). Um also den kranken Bettler vor der Haustür retten zu wollen, hätte der Reiche ihn wie einen Bruder lieben müssen. Nächstenliebe kann vielerlei Facetten haben: Mitleid, Fürsorglichkeit, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Herzensgüte etc. Das sind durchweg sehr positive menschliche Regungen, die alle eine natürliche Grundlage haben (vererbte Charakterzüge, sozialethische Erziehung, altruistische Grundhaltung etc.). Der Glaube an Gott, der bekanntlich enorme soziale Energien freisetzen kann, ist imstande, diese vorhandenen  Gefühlsregungen bzw. Grundeinstellungen noch weiter zu fördern oder anfangs nur rudimentär vorhandene Mildherzigkeit hervorzurufen, aber auch das geschieht immer noch auf natürliche Weise. Gott gibt uns jedoch darüber hinaus die Möglichkeit, „das Herz durch Gnade zu stärken“ (Hebr. 13:9). Könnte demnach z.B. ein gesunder junger Mann, der seit frühester Jugend ein Lotterleben führt, einen kranken alten Mann, der in Lumpen gekleidet vor seiner Toreinfahrt langsam dahinsiecht, denn wirklich lieben?!.. Ein Almosen geben – ja, vielleicht auch seine soziale Verantwortung  wahrnehmen und dem armen Schlucker nachhaltig medizinische Hilfe und Verpflegung ermöglichen, - auch das scheint im Bereich des Vorstellbaren zu liegen; aber sich tatsächlich in die Lage des anderen versetzen (vgl. Hebr. 13:3) und mit ihm fühlen, sein Leid teilen wollen, - das übersteigt beinahe schon unser Vorstellungsvermögen. Oder können Sie sich einen Yuppie in einem schneidigen Cabriolet vorstellen, der unterwegs in einem sozialen Brennpunkt beim Anblick eines unglücklich gestürzten Obdachlosen sofort anhält, ihn auf den Beifahrersitz platziert und ins nächste Krankenhaus fährt?!.. Wohl kaum. Doch nur diese innerliche Identifikation mit dem Notleidenden macht uns zu Nachahmern Christi. Denn Christus hatte ebenfalls Mitleid mit uns Sündern. „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern Er entäußerte Sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; Er erniedrigte Sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil. 2:6-8). In diesen prägnanten Worten ist alles gesagt. Nur darf es nicht passieren, dass ihr Sinn an unseren Herzen und an unseren Köpfen spurlos vorbeigeht. Es sind derart wunderbare Worte, dass man sie nicht oft genug wiederholen kann! An ihnen erkennen wir, dass der Glaube an Jesus Christus das größte Gut in unserem Leben ist. Nun müssen nur noch Taten folgen...

Wenn also Gottes Sohn Sich Selbst freiwillig zum Sklavendasein erniedrigt hat, bedeutet dies, dass auch wir uns bis zur Gänze für jeden Seiner „geringsten Brüder“ (Mt. 25:40,45) einsetzen sollen. Und hier kommen wir endlich von der sozialen und moralischen Ebene auf die geistliche und theologische. Liebe äußert sich ja nicht ausschließlich in karitativen Werken. Gewiss, in einer extremen Notsituation ist jeder Hilfsbedürftige „mein Nächster“ (Lk. 10:29), und im Alltag kann es auch der Bettler sein, der vor meiner Haustür dauerhaft Posten bezogen hat (vgl. Mt. 26:11; Mk. 14:7; Joh. 12:8), doch vor allem ist es mein näheres soziales Umfeld, also meine Familie und meine Kirchengemeinde. Da beginnt Liebe! Wenn ich nun nach spirituellen Kriterien denke, werde ich auch entsprechend handeln. Wenn ich erkenne, was für ein entsetzlicher Sünder ich vor Gott bin, dem völlig unverdient so unvorstellbar viel Gutes in diesem Leben widerfahren ist, dann kann ich nicht anders, als jegliche Kränkung und Ungerechtigkeit, sogar Untreue und Verrat mit Leichtigkeit zu vergeben. Ich bin demzufolge doch der Schuldner, der ständig um Vergebung seiner immensen Schuld winseln muss (vgl. Mt. 18:26)! Wie gut trifft es sich da, dass ich nahezu jederzeit jemanden um mich habe, dem ich ständig meine Liebe erweisen kann, auch wenn er diese im Moment noch nicht wertschätzen kann!..  

Heiliger Berg Athos. Ein Novize fragt seinen Altvater: „Geronta, was ist Demut?“ - „Demut ist, wenn du deinem Widersacher vergibst, noch bevor er selbst seine Verfehlungen erkannt hat und um Verzeihung bittet“. ... Wenn ich das verinnerliche, ist Nächstenliebe – selbst das Gebot der Feindesliebe – „nicht schwer“ (s. 1 Joh. 5:3). Führe ich aber kein geistliches Leben (wozu regelmäßige Beichte und die Teilnahme an der Eucharistie gehören), werde ich meine eigene Sündhaftigkeit nur sehr vage oder gar nicht erkennen. Dann kann ich mir vielleicht selbst einbilden bzw. der Außenwelt vormachen, dass ich voll des Glaubens bin und glühende Liebe besitze, dass mir kein Opfer zu schade ist (vgl. 1 Kor. 13:2-3), aber vor Gott wäre ich dann nur ein elender Lügner, der sich selbst betrügt (s. 1 Joh. 4:20). Das aber würde bedeuten, dass ich nicht Christus Gott nachahme, sondern den „Vater der Lüge“ (s. Joh. 8:44). 

Einzig ein Leben in Christus (in Seinem Leib) kann uns davor bewahren. Amen.

Jahr:
2019
Orignalsprache:
Deutsch