Predigt zum 37. Herrentag nach Pfingsten / Synaxis der Neuen Märtyrer und Bekenner Russlands (1 Tim. 4:9-15; Röm. 8:28-39; Lk. 19:1-10; Lk. 21:8-19) (10.02.2019)

Liebe Brüder und Schwestern,

die Russische Kirche feiert heute das Gedächtnis aller Neuen Märtyrer und Bekenner Russland und gedenkt zugleich aller Opfer der bolschewistischen Kirchenverfolgung des 20. Jahrhunderts. Dieses Datum im Kirchenkalender bietet überdies Anlass zum Nachdenken über die Bedeutung solcher nationaler Gedenktage. Vor allem ein Begriff muss in diesem Zusammenhang von vornherein aus den Köpfen und Herzen der Menschen gestrichen werden: der Nationalismus. Es geht in der orthodoxen Kirche niemals um die Verherrlichung oder Überhöhung tatsächlicher oder vermeintlicher Errungenschaften bzw. Vorzüge einer bestimmten Ethnie, sondern um die Berufung des betreffenden Volkes durch Gott (vgl. Röm. 8:30) bzw. um die vom Herrn gegebene Verantwortung. Und dieser ist das russische Volk als Hüter der Orthodoxie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Masse nicht gerecht geworden. Es verlor – wie zuvor schon Israel und Byzanz – seine exponierte Stellung als Gottesvolk und musste durch unvorstellbare Leiden für seine Untreue büßen. Es gibt also kein Volk, das per se in Gottes Augen andere Nationen überragt, so dass sich daraus ein Überlegenheitsanspruch ableiten ließe. Wohl aber gab und gibt es Völker, denen Gott eine besondere Verantwortung zuerteilt hat, was aber keinen Anlass zur Überheblichkeit bietet. Schließlich gibt es für ein „erwähltes Volk“ nichts schlimmeres, als der Berufung von Gott und der Verantwortung vor der Menschheit nicht gerecht zu werden. Von daher ist Demut angebracht, nicht nationale Selbstglorifizierung.

Trotzdem können wir solchen historischen Gedenktagen die Möglichkeit abgewinnen, nach vorne zu blicken und die Chancen zu erkennen, die Gott Seinem Volk im Falle einer zukünftigen erneuten Hinwendung zu Ihm eröffnen kann. Israel, Byzanz und Russland waren zu verschiedenen Epochen vom Ideal her Gottes Volk, wobei Anspruch und Wirklichkeit mal mehr, mal weniger weit auseinander lagen. Wir wollen also nicht die Gründe erforschen, warum Gott den von Ihm berufenen und gesegneten Völkern zu verschiedenen Zeitpunkten der Weltgeschichte offensichtlich Seine Gnade entzogen hat, sondern wir versuchen zu ergründen, welche Schlüsse wir für die Zukunft ziehen können.

Was das Volk Gottes in der Vergangenheit vereinte, stärkte und beflügelte, war die kollektive Idee der Gottesdienerschaft. Solange diese Idee aufrecht erhalten wurde, konnte man sich der Gunst des Allerhöchsten gewiss sein. Es war ein Ideal, das niemanden ausgrenzte, sondern alle anderen zur Teilhabe einlud, aber nicht nötigte. Der Nationalismus erwies sich als das größte Hemmnis auf diesem Wege. Das christliche Römische Reich (Byzanz) zerfiel, als sich nationalistische Tendenzen durchzusetzen begannen, die den Zusammenhalt des Reiches zunehmend schwächten. Die Feinde Russlands wussten früher wie heute, dass man den Zusammenhalt der orthodoxen Gemeinschaft zerstören konnte, indem man regionale nationalistische Bestrebungen künstlich erzeugte und danach immer weiter intensiv befeuerte. Die Lehre für uns Orthodoxe jedweder Nation muss für die Zukunft sein, den Zusammenhalt im orthodoxen Glauben zu stärken und über die eigenen nationalen Befindlichkeiten zu stellen. Nach meinem überaus fehlbaren Verständnis könnte das russische Volk in der Zukunft geeignet sein, der Welt eine orthodoxe christliche Lebensweise als Alternative zu den selbstzerstörerischen Demokratien westlicher Prägung zu zeigen, die im Namen von Freiheit, Menschenrechten und Rechsstaatlichkeit immer neue gottesfeindliche Gesetze und Normen erfinden und dem moralischen Verfall Tür und Tor öffnen. Zu gegebener Zeit werden alle erkennen, dass sich von Gott lossagenden Gesellschaftssysteme das eigene Grab schaufeln, nur könnte es da schon längst zu spät sein. Die Antwort auf den destruktiven Liberalismus, der nur individuelle Rechte, aber kaum Pflichten propagiert, muss eine Doktrin sein, die mit beiden Beinen auf dem Fundament des Evangeliums steht, und nicht auf pseudo-christlichen Werten aufbaut. Dazu bedarf es aber eines umfassenden Konsenses, einschließlich der nicht-christlichen Minderheiten, die als gleichberechtigte Bürger jeden Schutz genießen und jegliche Anerkennung ihrer Rechte zuerkannt bekommen müssen. Das geht aber nur, wenn wir Christen im wahrsten Sinne des Wortes vorbildlich leben (solange christliche Männer aber weiter sonntags in die Kneipe gehen, während muslimische Männer eifrig zum Freitagsgebet in der Moschee erscheinen, bleibt uns als „Doktrin“ nur der blinde Nationalismus auf dem geistig-moralischen Niveau von PEGIDA, der zwar weiß, wogegen er ist, nicht aber wofür er steht). Das Russische Reich kam besagtem Ideal schon ziemlich nahe, und das über Jahrhunderte, bevor es durch gottesfeindliche Mächte von innen zersetzt und schließlich zugrunde gerichtet wurde. Für die Zukunft ist mir aber völlig egal, ob am Ende das russische oder ein anderes Volk die Federführung innehat, auch - unter welcher Staatsform und unter welchem Gesellschaftsmodell dies vonstatten gehen wird, ja sogar in welche Himmelsrichtung die Abschussrampen der Atomraketen dieses Volkes  zeigen werden – Hauptsache, dieses Volk wird zum Vorreiter und Träger der wahren christlichen Ideologie. Wenn sich nur so ein Volk finden ließe!..

Jede einzelne Kirchengemeinde, jede einzelne nach orthodoxen Kriterien lebende Familie, jeder einzelne orthodoxe Christ kann bereits heute seinen Beitrag dazu leisten - ganz egal, welche Sprache er zu Hause oder in der Kirche spricht, welchen Pass er besitzt und welche Hautfarbe er hat. Wenn uns die Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus verbindet (s. Röm. 8:35), sind wir alle eins! Und nur dann erfüllen wir den sehnlichsten Wunsch unseres Herrn nach Einheit, dem Vorbild der Heiligen Trinität entsprechend (s. Joh. 17:11). Amen.

Jahr:
2019
Orignalsprache:
Deutsch