Predigt zum 36. Herrentag nach Pfingsten (1 Tim. 1:15-17; Lk. 18:35-43) (03.02.2019)

Liebe Brüder und Schwestern,

wir befinden uns gerade in einer relativ entspannten Phase des Kirchenjahres zwischen den beiden größten Festtagen und den beiden längsten Fastenzeiten. Hinter uns liegen zudem die festlichen Tage zwischen Christgeburt und Theophanie, vor uns liegen noch die Vorbereitungswochen zur Großen Fastenzeit. Schon in einer Woche wird uns Zachhäus wie jedes Jahr einen ersten dezenten Hinweis auf die nahende segensreiche Zeit des Fastens zukommen lassen. Aber auch in dieser, auf die winterlichen Festtage folgenden „neutralen“ Zeit entzieht uns die Mutter Kirche nicht die dringend benötigte geistliche Nahrung, denn auch außerhalb der Fastenzeiten steht uns allen eine wohldosierte Injektion an einsichtsvoller Selbstbezichtigung gut zu Gesichte. Beim Apostel Paulus kann man anhand der einführenden Worte ja oftmals Rückschlüsse auf die Bedeutung der darauffolgenden sachbezogenen Rede ziehen – z.B. „Ihr sollt wissen...“, „… möchte ich euch nicht in Unkenntnis lassen...“ (s. 1 Kor. 10:1; 12:1;  1 Thess. 4:13) – Worte und Redewendungen, die jedoch durch die nun folgende Einleitung noch übertroffen werden: „Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt:“ - und dann  kommt die eigentliche Kernaussage: - „Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste“ (1 Tim. 1:15). Aha! Es ist also dem Wort Gottes zufolge „glaubwürdig“ und „wert, dass man es beherzigt“, dass ich der größte Sünder von allen bin und dass, offensichtlich, diese Erkenntnis in einem engen Zusammenhang mit dem Erlösungswerk Jesu Christi steht. Wie grundlegend wichtig aber das Eingeständnis der eigenen Unwürdigkeit für das Fortschreiten im geistlichen Leben ist, lässt sich anhand folgender Parallele skizzieren.

Der Seelsorgedienst eines Priesters bringt es nun mal mit sich, viel mit psychisch Kranken zu tun zu haben. Im Gegensatz zum Psychotherapeuten kennt der Priester nicht die detaillierten Ursachen und Erscheinungsformen jeder einzelnen psychischen Störung, weiß nichts über praktische Heilmethoden derselben, aber er kommt immer wieder zu ein und demsleben Schluss:  psychisch Kranke lassen sich in zwei sich grundlegend voneinander unterscheidende Kategorien unterteilen - in solche, die wissen, dass sie ein psychisches Problem haben, und solche, die nicht wissen, dass sie psychisch krank sind. Ersteren kann immer geholfen werden, Letzteren nicht. Der Priester benötigt zudem  – anders als der Mediziner - zumindest einen Anfangsglauben des Patienten, um tätig werden zu können; und je stärker der Glaube, desto größer die Möglichkeiten des Priesters, den Heilungsprozess mit seelsorgerischen Mitteln zu unterstützen bzw. zu beschleunigen. Auf alle Fälle sind hier die Chancen für eine vollständige Genesung bzw. Überwindung einer vorübergehenden Störung des mentalen Gleichgewichts absolut gegeben. Der zweiten Kategorie hingegen kann, wenn überhaupt, nur pharmazeutisch geholfen werden, um wenigstens die Symptome zu lindern. Der Priester kann dann eigentlich nur als Laien-Psychologe unverhältnismäßig viel an Zeit und Mühe aufwenden, um am Ende nur die unweigerliche Verschlimmerung wenigstens etwas aufzuhalten. - Wozu aber dieser dilettantische Exkurs in den medizinischen Fachbereich? - Ganz klar, weil sich dazu eine exakte Parallele auf der seelsorgerisch-geistlichen  Ebene ableiten lässt.

Als orthodoxe Christen wissen wir, dass die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit vor Gott das Fundament für die Gesundung der Seele ist. Alle anderen Religionen und Weltanschauungen bieten dem Menschen Erfolgsrezepte an – Meditation, autogenes Training, Yoga etc. – und schärfen ihm ein, er würde dadurch wieder „zu sich selbst finden“ und die „Selbstreinigungskräfte in seinem Innersten aktivieren“. Sie verschweigen ihm jedoch, dass die Krankheit, die ihn wirklich im Griff hält, die Entfremdung von Gott ist und Sünde heißt. Ihm ist bewusst, dass er Probleme hat, aber einen ehrlichen und objektiven Befund über seinen seelischen Gesundheitszustand würde der moderne Egomane als Affront empfinden. Der Mensch kann sich vielleicht nach einem kostspieligen Hinweis darauf, dass er „an sich selbst glauben muss“, vorübergehend besser fühlen, bestenfalls psychisch gestärkt von der roten Couch aufstehen, aber am Grundübel ändert sich nichts. Er ist immer noch ein großer Sünder vor Gott, nur weiß er nichts davon und es interessiert ihn auch nicht weiter. Hauptsache, er ist für einige Zeit sediert - mit welchen Mitteln und aus welcher Quelle, ist für ihn vollkommen zweitrangig. Es gibt aber nichts schlimmeres für einen Kranken, als die Unkenntnis seiner Krankheit.

Wir alle sind krank an der Seele: der eine mehr, der andere weniger. Es gibt keine geistlich vollkommen gesunden Menschen, denn dann bedürften wir des Arztes nicht. Aber welch einen gewaltigen Vorteil haben diejenigen, welche diesen gefallenen Zustand in sich selbst erkennen, diesen beweinen und dann zum einzigen Arzt gehen, der sich damit auskennt – Jesus Christus! Er sagt: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“ (Mk. 2:17; vgl. Mt 9:12-13 u. Lk. 5:31-32). Und wer möchte da nicht der Erste sein?!..

Der Blinde von Jericho steht heute sinnbildlich für alle, denen geholfen werden kann. Er weiß, dass er Hilfe benötigt, er lässt sich, allem gesellschaftlichen Widerstand zum Trotz und ungeachtet seiner körperlichen Behinderung (s. Lk. 18:19), nicht davon abbringen, den Herrn Jesus Christus flehentlich um Hilfe anzurufen. Sein (auf die Probe gestellter) Glaube hilft ihm wieder, das Augenlicht zu erlangen. Dieser Glaube – gelehrt, gepredigt und gelebt in unserer Kirche, wird auch uns helfen, unsere geistliche Blindheit abzulegen. Amen.

Jahr:
2019
Orignalsprache:
Deutsch